Nummern werden zu Namen
Sandbostel. Zahlreiche Gäste, Vertreter:innen der Opferverbände, konsularische Vertretungen sowie Vertreter:innen aus der Politik gedachten der Befreiung des Kriegsgefangenenlagers Stalag X B in Sandbostel.
Vor 78 Jahren befreiten britische Truppen das Lager. Für viele Gefangene kam die Hilfe leider zu spät. Neben Landrat Marco Prietz, der zum Auftakt der Veranstaltung am ehemaligen Lagerfriedhof die zentrale Ansprache hielt, war unter anderem auch die niedersächsische Kultusministerin Julia Willie Hamburg vor Ort.
Das Grauen der NS-Herrschaft
Es ist beinahe idyllischer Ort: Mächtige Rhododendren umsäumen die Fläche, große Kiefern beschatten die Wege und Bänke laden zum Verweilen ein. Doch repräsentiert dieser heute friedliche Ort zusammen mit dem benachbarten ehemaligen Kriegsgefangenenlager Stalag X B das nackte Grauen der NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs. Die Kriegsgräberstätte in Sandbostel und das ehemalige Lager sind heute eine Gedenkstätte. Um der Befreiung durch britische Truppen vor 78 Jahren zu gedenken, fand am vergangenen Samstag eine feierliche Kranzniederlegung am zentralen Gedenkstein der Gräberstätte statt. An dem heute friedliche Ort versammelten sich zahlreiche Gäste. Im Anschluss der Kranzniederlegung wurden die Gedenkfeierlichkeiten in der Lagergedenkstätte und der Lagerkirche mit Ansprachen verschiedener Vertreter:innen fortgesetzt.
Nachdem sich zahlreiche Gäste vor dem zentralen Gedenkstein versammelt hatten, begrüßte der Vorsitzende der Stiftung Lager Sandbostel, Günther Justen-Stahl, die Besucher:innen. Auf den Tag genau 78 Jahre später waren sie aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden und Polen angereist, um an den Befreiungstag zu erinnern. Habe sich die Gedenkfeier im vergangene Jahr noch mit zwei schweren äußeren Krisen konfrontiert gesehen, sei in diesem Jahr angesichts des Bedeutungsverlustes der Corona-Pandemie ein derartiges Zusammenkommen vieler Menschen wieder möglich.
Keine Vertreter:innen aus Russland und Belarus
Leider nicht beendet sei die kriegerische Invasion der russischen Föderation in die Ukraine. Deshalb habe man auch in diesem Jahr keine Vertreter:innen der russischen und belarussischen Konsulate eingeladen. „Um deutlich zu machen, dass sich dies nicht gegen die russische Zivilbevölkerung oder russischstämmige Menschen in Deutschland richtet, werden wir nachher für Russland, Weißrussland und die Ukraine hier stellvertretend Kränze niederlegen“, erklärte der Stiftungsvorsitzende.
Auch Landrat Marco Prietz fand deutliche Worte in seiner Ansprache vor der Kranzniederlegung. „Das Leid war furchtbar, sinnlos und darf nie vergessen werden“. Er erinnerte an die Auseinandersetzungen innerhalb des Kreistages, als diejenigen, die sich für die Aufarbeitung der Geschichte des Sandbosteler Lagers und den Erhalt der noch stehenden Baracken eingesetzt hatten mit dieser Idee auch auf Ablehnung stießen. Der Landrat erinnerte daran, was heute Dank sorgfältiger Aufarbeitung wissenschaftlicher Konsens ist: Die menschengemachten Schrecken der NS-Herrschaft erforderten damals drei wichtige Voraussetzungen. Neben den eiskalten Beschlüssen der Wannseekonferenz 1942, auf der die Entscheider und Machthaber „brutale“ Pläne schmiedeten, brauchte es zur Umsetzung bereite Unterstützung „vor Ort“ und letztlich jene in der breiten Bevölkerung, die von den Grauen wussten und sich „nicht getraut haben, gegen dieses Unrecht aufzubegehren“. So trügen auch die, die nicht unmittelbar an Unrechtstaten beteiligt gewesen sind eine Mitverantwortung. Der Landrat bezeichnete das ehemalige Kriegsgefangenenlager, als „Spiegelbild für den rohen NS-Terror“.
Unter Missachtung der Genfer Konventionen durchliefen zwischen 1939 und 1945 „mehrere hunderttausend Gefangene aus der ganzen Welt das Lager“. So steht es auf der Internetseite der Gedenkstätte. Kurz vor Kriegsende deportierte die SS „etwa 9500 Häftlinge aus dem Hauptlager und aus Außenlagern des KZ Neuengamme nach Sandbostel. Etwa 3.000 von ihnen starben an Seuchen, an Erschöpfung oder durch Gewalttaten der Wachmannschaften“, heißt es dort weiter.
Die Geschichten bewahren und erzählen
Im Anschluss an die Worte des Landrats betonte Franciska Henning vom Young Committee der Amicale Internationale KZ Neuengamme die Bedeutung von Gedenkstätten und Gedenkstättenarbeit. „Als Archivarin sehe ich meine Aufgabe in genau einer Sache: Ich bewahre die Geschichten jener, die sie nicht mehr selbst erzählen können. Und ich erzähle sie, wenn man mich nach ihnen fragt. (…) Gemeinsam machen wir Häftlingsnummern zu Namen, Namen zu Bildern und Bilder zu Geschichten“.
Anschließend beteten Vertreter:innen verschiedener Religionen für die Opfer und deren Angehörige und mehrere Kränze wurden am Gedenkkreuz abgelegt.
Gedenkstättenleiter Andreas Ehresmann wies später in der Gedenkstätte darauf hin, dass das Gedenken an den NS-Terror und eine kritische Erinnerungskultur von hoher Bedeutung für unser demokratisches Gemeinwesen seien. Der Historiker berichtete von seinen Beobachtungen: „(…) auch im Zuge des russischen Angriffskriegs ist in vielen Ländern eine stetig zunehmende (Re)Nationalisierung der Geschichtsschreibung und der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg festzustellen. Die Geschichte wird umgedeutet und die Erinnerungskultur wird sich dienstbar gemacht für eine (…) nationale oder nationalistische Agenda.
Gerade heute, wo eine stete Zunahme von Rassismus und Antisemitismus zu beklagen ist und zunehmend (…) autokratische Herrschaftsformen Demokratie, Recht und die internationale Verständigung bedrohen, zeigt sich, dass die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus hochaktuell ist – auch in bis dato sicher geglaubten Demokratien“.