pvio/jm

Interview: Den Widerspruch aushalten

Michael Freitag-Parey und Kristian Goletz erklären, warum Friedenspädagogik kein naiver Traum ist.

Michael Freitag-Parey und Kristian Goletz.

Michael Freitag-Parey und Kristian Goletz.

Bild: Christian Meyer

Anlässlich des Friedensfestivals am Sonntag, 15. Juni, in der Gedenkstätte Sandbostel haben sich der Friedenspädagoge Michael Freitag-Parey und Pastor Kristian Goletz den kritischen Fragen nach Sinn und Grenzen friedenspädagogischer Arbeit gestellt. Sie sind überzeugt: Friedensengagement braucht nicht weniger, sondern mehr Realismus.

 

ANZEIGER: Herr Goletz und Herr Freitag-Parey, Sie feiern 80 Jahre Befreiung vom Nationalsozialismus – an einem Ort, der für die Verbrechen dieses Regimes steht, die nur durch militärische Gewalt beendet werden konnten. Der Holocaust-Überlebende Paul Spiegel sagte deshalb einmal, dass sich „hinter dem Ruf nach Frieden oft die Mörder verschanzen“.  Steht Ihre Friedensbotschaft dieser Lehre aus der Geschichte nicht entgegen?

 

Goletz: Paul Spiegel hatte Recht, als er das in Bezug auf die Hamas und die Angriffe auf Israel feststellte. Diese Lehre aus der Geschichte und der Gegenwart zeigt sich immer wieder. Das bedeutet aber nicht, dass Frieden nicht weiterhin ein lohnenswertes Ziel ist, für das es sich zu kämpfen lohnt. Es ist ja ganz offensichtlich, dass Sandbostel nur zur Gedenk- und Erinnerungsstätte und zum kirchlichen Friedensort werden konnte, weil dieser Ort von bewaffneten Soldaten befreit wurde.

 

Die Festival-Ankündigung spricht von „Resonanzräumen“ und „Begegnung“, davon Menschen „mit Musik zusammenzubringen“? Was soll das gegen außenpolitische Bedrohungen bringen?

 

Freitag-Parey: Musik ist eine Brücke, mit deren Hilfe sich Menschen begegnen, die sich so sonst im Alltag nicht treffen würden. Menschen aus und mit ganz unterschiedlichen Hintergründen. Musik eröffnet Raum und Zeit für Begegnung und Austausch, neue Impulse. Einen solchen Raum zu schaffen, ist einer der Gründe dafür genau hier, auf dem Gelände des ehemaligen Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglagers Stalag X B, das Festival stattfinden zu lassen. Wir haben bei den vorherigen Festivals die Erfahrung gemacht, dass sich Menschen durch die Musik und die Geschichte, die der Ort erzählt, ansprechen und inspirieren lassen. Sie kommen ins Nachdenken und Fragen: Was könnte mein ganz eigener Beitrag zum Frieden in meinem Umfeld sein? Wir sind der Überzeugung: Das Festival stärkt den Zusammenhalt, spendet Mut, vernetzt Gleichgesinnte, schenkt Zuversicht und setzt Ideen frei, die unserer Zivilgesellschaft zuträglich sind.

 Goletz: So ist es. Das Festival wird aber natürlich nicht dazu führen, dass Putin die Waffen niederlegt. Trotzdem soll es einen Ort bieten, an dem Menschen sich begegnen, denn Begegnung schafft Verständigung und baut Feindbilder ab. Eine Erinnerungskultur, die sich darin gefällt, nur auf das hinzuweisen, was mal war und stolz erzählt, wie gut wir Deutschen das bewältigt haben, verkommt zum Gedächtnistheater. Die historische Lagerküche ist schon als Raum ein sprechender Resonanzraum unserer Geschichte in der Gegenwart und wenn es gut läuft, in die Zukunft hinein. Denn darum geht es bei all unserer Arbeit: Dass allen klar wird, dass wir immer gegen Faschismus, gegen Rechtsextremismus, gegen Menschenverachtung kämpfen müssen. 

 

In Ihrer Ankündigung heißt es, das Festival wolle „Orientierung und Haltung bieten“. Wie sieht diese Haltung angesichts des Angriffskriegs gegen die Ukraine aus? Bedeutet Friedenspädagogik, beide Seiten zum Dialog zu bitten – auch wenn eine Seite Panzer schickt und die andere um ihr Leben kämpft?

 

Goletz: Die Haltung innerhalb der Evangelischen Kirche Deutschlands ist da ähnlich ambivalent, wie im Rest der Gesellschaft. Ich finde, die damalige Ratsvorsitzende Annette Kurschus hat es 2023 treffend ausgedrückt: „Wir können die Angegriffenen ja nicht schutzlos lassen, wenn sie mit Raketen beschossen, ihres Landes beraubt, vergewaltigt und verschleppt werden.“ Der Einsatz von Waffen müsse aber „zum Ziel haben, die Waffen zum Schweigen zu bringen“. Und ja, auch Waffen, die zur Verteidigung eingesetzt werden, sind Waffen, die töten. Umso notwendiger ist es, möglichst schnell Frieden herzustellen. Und Frieden heißt dabei mehr als nur die Abwesenheit von Krieg. Entscheidet sich die Ukraine dafür, die Waffen niederzulegen, ist dort nicht Frieden, sondern Unterdrückung.

Frieden spielt sich aber nicht nur auf der großen Weltbühne ab, sondern auch hier bei uns. Und da bedeutet Friedenspädagogik durchaus, zum Dialog zu bitten. Und gegebenenfalls auch festzustellen, wann Dialog unmöglich wird. Wenn eine Partei keine Verständigung will, dann kann es auch keinen Dialog geben.

Freitag-Parey: Die Friedenspädagogik, oder die Friedensarbeit im Allgemeinen, wird allzu oft und vorschnell als naiv und nicht zielführend abgestempelt. Man wird dann mit radikal pazifistischen, esoterischen Friedensapellen und dazu passenden Bildern von Demonstrationen und Protestaktionen behelligt, gleichgesetzt, abgetan und schlussendlich belächelt. Das ist mehr als bedauerlich. Vielleicht sogar fahrlässig, weil Gesellschaft und Politik Schaden nehmen, wenn sie die Friedenspädagogik nicht in ihr Handeln einbeziehen.

Die Friedenspädagogik will doch grundsätzliche Haltungen stärken: Empathie, Selbstreflektion, Perspektivwechsel, einen differenzierten Blick auf mein Gegenüber und seine Geschichte und Situation. Sie fragt nach gewaltfreien Alternativen und Ansätzen ziviler Konfliktberatung in der Welt und im kleinen Alltag. Und noch mehr: Sie will Menschen befähigen Ungleichbehandlung, Feindbilder, Vorurteile und Stereotypen im eigenen Umfeld wahrzunehmen, zu hinterfragen und sich dazu zu verhalten. Sie lädt ein, eine Haltung einzuüben, die dem Gegenüber mit Wertschätzung, echtem Interesse und Respekt begegnet. Sie lehrt aber auch genauso deutlich, wo die Toleranz endet, wenn es nämlich um den Schutz anderer oder auch den eigenen geht. Bei alledem ist sie aber eines nicht: Eine Feuerwehr. Die Friedenspädagogik braucht Raum und Zeit, weil sie Menschen ganzheitlich betrachtet und ernst nimmt, anders als die Kriegsherren dieser Welt.

 

„Give peace a chance“ – das ist ein schöner Slogan. Aber was heißt das heute konkret? Gibt man auch Wladimir Putin oder Ali Khamenei „eine Chance für den Frieden“? Wo endet der Appell und beginnt die Naivität?

 

Goletz: Natürlich sollte man Putin und Khamenei „eine Chance für den Frieden“ geben. Immer wieder. Was sonst ist die Aufgabe internationaler Diplomatie, auch der deutschen? Und dann nüchtern bilanzieren: Was versteht die andere Seite unter Frieden und will sie ihn wirklich? Oder sind es nur Lippenbekenntnisse und Täuschungsmanöver?   

Freitag-Parey: Wenn der historische Ort hier in Sandbostel sprechen könnte, würde er uns vielleicht eine Bitte mit auf den Weg geben: „Give peace a chance. Gib dem Frieden eine Chance, Mensch!“ Eine Bitte und eine Frage: „Was machst du für den Frieden, Mensch?“ Und einen Appell: „Fang an darüber nachzudenken! Es wird Zeit! Hör auf meine Geschichte“.

Klingt das naiv? Ich finde nicht. Konkreter geht es nicht. Hör auf meine Geschichte sagt dieser historische Ort. Von Schülern darauf angesprochen, welche Lehre der Mensch aus der Katastrohe des 2. Weltkrieges ziehen sollte, sagte der irische Militärinternierte Harry Callan, der u.a. in Sandbostel gefangen gehalten wurde: „Wir müssen verstehen, dass Geschichte der Schlüssel für ein besseres Verstehen meines Gegenübers und der Schlüssel für einen gerechten Frieden ist.“

 

Wie gehen Sie in Ihrer Friedenspädagogik mit dem Widerspruch um, dass die Forderung nach Frieden in einer Welt der Nationalstaaten die Vorbereitung für den Krieg erfordert -  "Si vis pacem, para bellum"?

 

Goletz: Genau so. Man muss diesen Widerspruch benennen. Und als Kirchengemeinden müssen wir dann auch auf der seelsorgerlichen Ebene dabei unterstützen, diesen Widerspruch auszuhalten.

 

Und wenn Sie Haltung fördern und fordern wollen: Welche Haltung sollten Menschen zur Bundeswehr, zu Soldaten und der Militarisierung der Zivilgesellschaft einnehmen?

 

Goletz: Der von Ihnen eingangs zitierte Paul Spiegel hat auch gesagt: „Man kann nicht a priori Nein zum Krieg sagen. Auschwitz wurde auch nicht durch Friedensdemonstrationen befreit, sondern von der Roten Armee.“ Solange nicht echter, gerechter Frieden auf der Welt ist, solange Menschenfeinde die Welt mit ihren Armeen bedrohen, solange braucht es eine demokratisch gesinnte Armee, die sich dem Frieden verpflichtet fühlt. Unsere Aufgabe ist es, die Menschen innerhalb und außerhalb der Bundeswehr an diese Ziele zu erinnern. „Frieden ist, wenn alle gleich sind“, hat die Hamburger Band kettcar gesungen. Und aus kirchlicher Sicht gilt, dass diese Gleichheit der Urzustand des Menschen ist und es auch das Ziel der Menschheit sein sollte. 

Freitag-Parey: Wertschätzung, echtes Interesse und Respekt. Ich schätze z.B. die Arbeit der Soldat:innen in der Fallschirmjägerkaserne in Seedorf und bin dankbar für den Austausch und die gute Zusammenarbeit zwischen ihnen und uns in der Gedenkstätte Lager Sandbostel bei verschiedenen Anlässen.

Die Militarisierung der Zivilgesellschaft, so wie ich sie wahrnehme und verstehe, empfinde ich als sehr komplex. Sie stärkt das Sicherheitsgefühl der einen und schürt die Angst der anderen, die den Frieden und die demokratischen Werte in Gefahr sehen, wenn es nur noch um die Aufrüstung und die Finanzierung von Waffensystemen geht. Das Nachdenken darüber, wie wir in diesen außenpolitisch unsicheren Zeiten unsere Zivilgesellschaft stärken können und müssen, kann noch breiter und differenzierter gedacht werden und muss alle gesellschaftlichen Gruppen und ihre Wahrnehmung und Ängste ernst- und mitnehmen. Aufrüstung, mehr Soldaten und neue Waffensysteme alleine werden unsere Zivilgesellschaft nicht resilient machen. Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass wir die Player in der Gesellschaft stärken, die Jugendarbeit machen. Vereine, Feuerwehr, Evangelische Jugend. Bei Festreden den Kindern und Jugendlichen immer nur zuzurufen, „ihr seid unsere Zukunft!“, greift zu kurz, wenn wir sie in der Gegenwart nicht ernst nehmen.

 

Das Friedensfestival in Sandbostel beginnt am Sonntag, 15. Juni, um 15 Uhr. Der Eintritt ist frei. Erwartet werden acht Bands, Begegnungen, Ausstellungen – und viele offene Fragen.


UNTERNEHMEN DER REGION

E-PaperMarktplatzStellenmarktZusteller werdenLeserreiseMagazineNotdienst BremervördeNotdienst OHZReklamationTicketservicegewinnspielformular