

Die Regisseurin Nora Fingscheidt gehört zu den wenigen deutschsprachigen Filmemachern seit Rainer Werner Fassbinder, die in der Lage und willens sind, Körper so zu filmen, dass Zuschauerin und Zuschauer etwas spüren. Kein Sprechtheater vor der Kamera, sondern Menschen in Ausnahmezuständen – ergriffen von ihren Affekten, der Vergangenheit und der Gegenwart.
„Systemsprenger“: Durchbruch und Vorbote
In Fingscheidts Langfilmdebüt Systemsprenger war es ein Mädchen, das an die Wände jeder Institution, jeder erzieherischen Instanz anrennt und sich – im übertragenen Sinn – den Kopf blutig haut. Die Intensität des Leinwandgeschehens war enorm. Einerseits ist es überraschend, dass Fingscheidt gleich für ihren zweiten Film, den ebenfalls intensiven The Unforgivable, nach Hollywood abberufen wurde. Und dann wieder auch nicht, denn „Systemsprenger“ ließ erkennen, dass hier jemand mit dem starren deutschen Filmfördersystem ähnlich aneinandergeraten könnte wie die Antiheldin mit allem, was sie eigentlich unterstützen und fördern will.
Tickende Zeitbombe - „The Outrun“
Auch in ihrem jüngsten Film, dem 2024 erschienenen The Outrun, steht wieder eine Frauenfigur im Zentrum, die zu ihrer Umwelt in einem ähnlichen Verhältnis steht wie eine Zeitbombe zu einem technisch und seelisch überforderten Räumkommando. Rona (Saoirse Ronan) säuft – und das massiv. In den ersten zwei Filmminuten entfaltet sich in vielen Kamera- und Körperbewegungen ein Vollrausch, der in der Teildemontage eines Londoner Pubs und dem finalen Rauswurf endet, noch ganz lustig. The Outrun macht aber schnell klar, dass hier ein Mensch auf der rapide abfallenden Bahn entlangschliddert – immer weiter nach unten.
Die Vorlage
The Outrun basiert auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Amy Liptrot, in dem die schottische Journalistin ihren Alkoholismus beschreibt, analysiert und in Beziehung zu ihrer Familiengeschichte und ihrer Gegenwart setzt. Es ist – neben dem wenig analytischen, aber ebenso ausbruchsartig geschriebenen Roman Panikherz von Benjamin von Stuckrad-Barre – eines der besten Bücher der letzten Jahre über Suchterkrankungen.
Empathie statt Mitleid
Die Verfilmung ähnelt dem Text insofern, als sie Mitleid als ersten Affekt, den man beim Betrachten empfinden könnte, durch die Inszenierung verhindert – zugleich aber Empathie ermöglicht. Das ist ein hauchdünner Grat, auf dem die Bilder hier gleichsam balancieren. Doch bei allen Abstürzen, die in Szene gesetzt werden, bleibt der Film stabil – und mit ihm Zuschauerin und Zuschauer, die sich mit der Figur verbinden können, ohne sie bemitleiden zu müssen.
Saoirse Ronans grandiose Zurückhaltung
Dass das gelingt, liegt auch und vor allem an Saoirse Ronan. Ronan wiederholt die Mischung aus Distanz und Anteilnahme in ihrem Spiel – indem sie keine Entblößungsperformance betreibt oder auf Effekte setzt, sondern ihre Alkoholikerinnen-Performance gleichfalls analytisch anlegt. Das bedeutet in diesem Fall eine ungeheure Genauigkeit im Ausdruck, bis in die kleinsten mimischen Nuancen, verbunden mit einer durchbrechenden körperlichen Wucht.
Auf dieser Basis macht The Outrun dann eigentlich alles richtig. Die seelische Matrix, in der die Sucht hier entsteht – als eine Art vermitteltes Erbe der Schizophrenie des Vaters – ist nie als platte Trauma-Erzählung gefasst („Sowas kommt von sowas“), bleibt eine Möglichkeit unter vielen. Nichts wird wegerklärt, und das Rätsel, aus welchen Gründen ein Mensch die Gewalt, die er in sich trägt, gegen sich selbst richtet, bleibt erhalten.
Große Kunst der Balance
Rona begibt sich, im Rausch zwar, aber doch wissentlich, in Situationen, in denen ihr Körper Verletzung und Todesdrohung ausgesetzt ist. Sie vertreibt jene, die sie lieben – und dann auch den, der es am längsten und selbst im Zustand der Auflösung mit ihr aushält. So eine Geschichte auf der Leinwand zu erzählen, ohne von oben herab eine Diagnose zu stellen, sondern die Balance zwischen Geheimnis, Analyse und Empathie zu halten – das ist große Kunst.
Auch auf allen anderen Ebenen ist hier alles gelungen. Die visuellen Metaphern sind der Natur entnommen, deren intakte Wildheit den Verwüstungen gegenübergestellt wird, die Rona in ihrem Leben anrichtet. Sie sind einfach, klar – und trotzdem vielschichtig.
Auch sonst waltet hier eine intakte Urteilskraft. Es findet zum Beispiel keine Täter-Opfer-Umkehr statt. Auch bei 2,2 Promille ist klar, wer die Schuld an einer Vergewaltigung trägt (es ist der vergewaltigende Mann, nicht die Frau in kurzem Rock, die besoffen zu ihm ins Auto gestiegen ist). Aber eben auch keine Entschuldigung. Wie hier von der Sucht und vom Schmerz und von der Hilflosigkeit (aber eben auch vom Kampf zurück an die Wasseroberfläche) erzählt wird, ohne dass der suchtkranke Mensch zum Opfer erklärt oder entmündigt wird, das hat schon eine große ästhetische, aufklärerische und dann eben auch schlicht menschliche Kraft. Eine schönere, eindringlichere und hoffnungsvollere Bildfolge als der abschließende Tanz vor den Wellen, die an der schottischen Küste brechen, ist im Kino der letzten Jahre kaum zu finden.