Tom Boyer

From London

London. Unser freier Mitarbeiter Tom Boyer absolviert nach seinem Abi einen einjährigen Freiwilligendienst in London und schreibt nun eine Kolumne darüber.

Ich dachte bisher, ich würde, wenn ich alt bin, mit einem Hund im Grünen leben. So würde ich meine letzten Lebensjahre in vollen Zügen genießen können. Mit einem Hund müsste Ich Gassi gehen, ihn Füttern und mich darum kümmern, dass sich um ihn gesorgt wird, wenn ich unterwegs sein sollte. Eine lebendige Erinnerung an die Wichtigkeit meiner Existenz wäre der Vierbeiner. Er ersetzt die Pflichten, die einst Kinder oder der Job mit sich brachten. Er fordert Struktur und Verantwortung. Haus im Grünen und vom Sessel aus mit Hund auf dem Schoss in den Garten gucken, das wäre wohl meine Wunschrente gewesen. Meine Freiwilligenarbeit in London hat mich eines Besseren belehrt.

Genauer gesagt Peter und Frank, die ich über meinen Freiwilligendienst beim German YMCA kennengelernt habe, taten es.

Der German YMCA, die Freiwilligenorganisation, diente ursprünglich als Gemeinschaft für deutsche Auswanderer. Jetzt finden hier Events wie Film-Nachmittage oder Deutschklassen statt. Frank und Peter sind hier Mitglieder.

Peter hat hier quasi seine eigene wöchentliche Liveshow: Peters Music heißt sie. Hierbei spricht er über eine seiner tausenden CDs (!), erzählt lebhaft über Komponisten und erklärt deren Werk. Von Mozart z. B. und seinen ersten Konzerten vor Königen im Kindesalter. Immer mittwochs.

Der frühere Lehrer hat einen freundlichen, eher zurückhaltenden Charakter. Sobald es aber um eine seiner Leidenschaften, etwa Sport oder Musik, geht, fängt er vor Begeisterung an zu Strahlen. Nicht nur fabuliert er wöchentlich über Musik, er spielt auch alle sieben Tage immer Tennis. Das nun seit über 70 Jahren. In den nächsten Wochen werde auch ich noch mal das Vergnügen haben, gegen ihn zu spielen. Er ist 95 und vor zwei Wochen ist Peter zurück aus Australien gekommen. Dort hat er für drei Wochen seinen Bruder besucht. Ein Mensch, der nach wie vor sein Leben genießt, selbstbestimmt. Ich bin sehr gespannt aufs Match.

Mit Spannung hörte ich vor ein paar Tagen auch Frank zu. Er erzählte eine Geschichte aus seinen Zwanzigern. Er saß im Bus, neben einem deutschen Auswanderer. Nach einem „Hallo“ von Frank, habe der Mann die ganze Busfahrt mit ihm auf Deutsch geredet. Frank nickte und lächelte, verstand aber nichts. „Hallo“ war alles, was er sagen konnte. Nach einem weiteren zufälligen Aufeinandertreffen war der Mann aus dem Bus über Jahre hinweg jeden Tag bei Frank zu Besuch. Hat mit der Familie gegessen - eigentlich fast dort gewohnt. Ich kann den Mann aus dem Bus nur allzugut verstehen. Frank besitzt ein einladende, positive Ausstrahlung. Mit ihr und seiner Offenheit erhellt er noch immer jeden Raum. Eigentlich hat Frank immer ein verschmitztes Lächeln auf dem Gesicht, schon früher wurde er „Sunnyboy“ genannt. Frank guckt sich gerne Konzerte an, spielt Klavier und ist eben auch bei Veranstaltungen des YMCA.

Frank und Peters stets vorhandene Lebenslust, ihre Offenheit und Begeisterungsfähigkeit, die sie sich bis zur Gegenwart, in hier hohes Alter erhalten konnten, begeistert und berührt mich. Bis heute erleben sie, was die Stadt Ihnen bietet, vom Supermarkt um die Ecke bis zum Jazzclub, und wirken erfüllt. Dieses natürlich-unnatürliche Leben - natürlich umgeben von Menschen, aber in London von wenig Natur - scheint zumindest den Mitgliedern des YMCA nicht nur zu gefallen, sondern sie auch jung zu halten. Ich denke, ihre geistige und physische Frische haben sie auch den unzähligen Reizen Londons zu verdanken. So haben mich die Bekanntschaften mit Peter und Frank bereits jetzt nachhaltig beeinflusst: Ich will zwar immer noch einen Hund, wenn ich alt bin. In den Garten mit ihm auf meinem Schoß schauen will ich aber nicht mehr. Sondern auf den Hyde Park.


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