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Ewgeniy Kasakow

Essay Menschliches Leid und politische Interessen

Den Menschen fällt auf, dass ukrainische Flüchtlinge anders behandelt werden als solche aus dem Nahen Osten. Dies als bloßen Rassismus zu kritisieren, verkennt, dass Asylpolitik auch Interessenspolitik ist.

In Deutschland herrscht unter den Menschen dieser Tage jedes Mal Erleichterung und Freude, wenn sie lesen oder hören, die Kriegsparteien in der Ukraine hätten sich wieder auf einen humanitären Korridor für Zivilisten geeinigt. Denn „sichere Korridore für die Flucht der Menschen“ - Männer zwischen 18 und 60 Jahre ausgeschlossen, die unterliegen aktuell in der Ukraine der Wehrpflicht - „und den Herantransport von Hilfsgütern und Medikamenten“, seien derzeit das Wichtigste für die ukrainische Bevölkerung, wie z. B. die humedica-Ärztin Dr. med. Anja Fröhlich es im Livetalk der Niedersächsischen Ärztekammer formuliert. Die Freude dürfte sich jedoch trüben, wenn man genauer darüber nachdenkt, was die Errichtung eines humanitären Korridors bedeutet: Die Kriegsparteien sind entschlossen, um das Wohngebiet der fliehenden Menschen zu kämpfen, was in der Konsequenz auf die Zerstörung des Wohnraums und der gesamten Infrastruktur hinauslaufen wird. Die Rückkehr der geflohenen Bevölkerung dürfte damit in die weite Ferne rücken.
 
Eine zu einfache Antwort
 
Gerade erlebt Deutschland eine beispiellose Welle der Solidarität mit der Ukraine. Diese drückt sich unterschiedlich aus - manchmal in den Forderungen, der Ukraine militärisch aktiver beizustehen, manchmal im öffentlichen Zeigen der ukrainischen Nationalfarben, manchmal in demonstrativer Bereitschaft „gegen Putin im Winter zu frieren“. Was jedoch den Minimalkonsens unter allen solidarischen Bundesbürgerinnen bildet - und es scheinen wirklich alle zu sein - das ist die enorme Bereitschaft, Flüchtlinge zu unterstützen.
Unvermeidlich vergleichen viele den derzeitigen Umgang mit den Flüchtlingen aus der Ukraine zum einen damit, wie man die nicht-europäischen Flüchtlinge behandelte, die Lukaschenko zusammen mit Putin bis vor Kurzem noch an die belarussisch-polnische Grenze verfrachtete, um die EU zu „erpressen“, wie es hieß. Auch als „Waffe“ bezeichneten deutsche und europäische Politiker:innen die Flüchtlinge, die man letztlich ihrem Schicksal in der Kälte hinter Stacheldraht im Wald überließ. Zum anderen wird die Situation von 2015 zum Vergleich herangezogen. Damals sprach man zwar auch einerseits von einer „Willkommenskultur“. Andrerseits gab es aber auch massive Proteste gegen die Entscheidung der damaligen Regierung und ihre Politik der offenen Grenze. Aus der Bevölkerung wie der Politik. Was ist der Unterschied, fragen daher viele und finden schnell eine zu einfache Antwort: Die Ukrainer:innen besitzen eine „europäische Identität“, seien weniger „fremd“. Kurz gesagt: Rassismus sei der Grund für die unterschiedliche Behandlung.
Und in der Tat: Gegenüber den Flüchtlingen von 2015 und an der polnischen Grenze im vergangenen Winter sind die heutigen deutlich privilegiert - die gegenwärtigen Flüchtlinge aus der Ukraine gelten als Kriegsflüchtlinge, individuelles Asylverfahren muss es nicht geben, Hürden für Arbeit und Schulunterricht soll es auch nicht geben.
 
Asylpolitik ist auch Interessenspolitik
 
Aber - und deshalb ist Rassismus nicht hinreichend als Erklärung der unterschiedlichen Behandlung - das Asylrecht beinhaltet nicht nur Schutz, es unterscheidet sortierend zwischen legitimen und illegitimen Gründen, nach Deutschland zu kommen. Das kann man kritisieren, aber zunächst ist es, wie es ist: Wirtschaftliche Not gilt nicht als ein legitimer Fluchtgrund, politische Verfolgung muss im langwierigen Verfahren nachgewiesen werden. Zudem - und das ist entscheidend - ist Asyl zu gewähren, eine politische Entscheidung. Das Asyl gebende Land gibt damit zu Protokoll, dass es mit den Zuständen in dem Herkunftsland ein ernsthaftes Problem hat. Die unbürokratische Anerkennung der ukrainischen Flüchtlinge durch Deutschland, die ihnen gewährte Einreise nach Polen - also in einen Staat, der noch im Herbst mit der Unterstützung der ganzen EU die Flüchtlinge aus Nahost und Afghanistan mit Armeeeinsatz an der Einreise hinderte - das sind politische Entscheidungen, die die Parteilichkeit im laufenden Konflikt unterstreichen sollen, die wiederum an (geopolitischen Interessen) gebunden ist. So geht es an den Grenzen derzeit nicht bloß um die Verhinderung von Leid. Dort geht es um Politik und Einfluss. Ebenso wie es 2015 und wie es in der Konfrontation mit Lukaschenko der Fall war.
Folglich: Während russische Propaganda stets betont, die eigene Armee würde auf Zivilisten achtgeben, gibt die EU zu Protokoll, der Angriff Russlands auf die Ukraine habe eine humanitäre Katastrophe ausgelöst. Und jeder neue Flüchtling wird als ein lebender Beweis für Russlands Schuld an der humanitären Katastrophe gewertet. Je deutlicher die Parteinahme im Konflikt, desto größer die Bereitschaft, den Flüchtlingen Asyl zu gewähren. Putins Opfer - und das sind alle Ukrainer:innen - sind zugleich ein Gewicht, das weiterem außenpolitischen Engagement in dem Konflikt Legitimation verleiht.
Man sollte sich also nichts vormachen: Flüchtlinge in der EU werden auch weiterhin als Last betrachtet werden. Und es wird sich zeigen, ob die jetzige Solidarität und Bereitschaft zur Hilfe nur Ausdruck politischer Konjunktur und strategischen Kalküls oder ernst gemeint war - spätestens dann, wenn die „richtigen“ Flüchtlinge nicht bei der ersten Gelegenheit zurückkehren werden.
 
Ewgeniy Kasakow ist Historiker und wissenschaftlicher Kurator beim Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven.
 


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