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Dümpeldeutschland

Die Wirtschaft der Bundesrepublik wird zum „kranken Mann Europas“. - Über die Gründe der Flaute und wie man versucht, ihr zu entkommen.

Das Prinzip Hoffnung mag erkenntnistheoretisch in der Philosophie funktionieren, aber nicht bei Marktanalysen: Wider Erwarten schrumpft die deutsche Wirtschaft.

Das Prinzip Hoffnung mag erkenntnistheoretisch in der Philosophie funktionieren, aber nicht bei Marktanalysen: Wider Erwarten schrumpft die deutsche Wirtschaft.

Bild: Patrick Viol

Alles neu macht der Frühling, heißt es. Und neu aufblühen lassen hat er. Nur die deutsche Wirtschaft nicht, die hat er ausgelassen. Der von der Bundesregierung erhoffte Frühjahrsaufschwung hat sich nicht einstellen wollen. Wie das Statistische Bundesamt auf der Basis vorläufiger Zahlen mitteilte stagnierte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im zweiten Quartal im Vergleich zum Vorquartal. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht davon aus, dass die deutsche Wirtschaft um 0.3 Prozent schrumpfen wird. Mit dieser Negativprognose ist die deutsche Volkswirtschaft allein. Von 20 untersuchten Volkswirtschaften bzw. Wirtschaftsregionen verzeichnet die Bundesrepublik als einzige ein Negativwachstum. Entsprechend schlecht fällt die Stimmung auf Arbeitgeberseite aus. Stefan Wolf, Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, spricht im Interview mit dem Deutschlandfunk gar davon, dass Deutschland „nicht mehr wettbewerbsfähig“ sei und die Bundesrepublik zum „kranken Mann Europas“ werde. Diesen Titel hatte der britische „Economist“ Deutschland vor mehr als 20 Jahren verliehen. Vor der Agenda 2010.

Verantwortlich für Deutschlands Dauerdümpelmodus sind - da sind sich Arbeitgeber - und nehmervertreter einig - die Krisen der letzten Jahre und deren anhaltende Konsequenzen: hohe Energiepreise und schwache Kaufkraft.

 

Energiepreise und Kaufkraft

 

Auf die Frage, was den Unternehmen zu schaffen macht, nennen Henrik Gerken, Experte für Volkswirtschaft, Industrie und Wirtschaftspolitik bei der IHK Stade, und Mario Böschen, Vorsitzender des DGB Kreisverbandes Osterholz, zuerst die nach wie vor hohen Energiepreise. Eine Kilowattstunde liegt derzeit bei 20 Cent. Diesen Preis bezahlt kein anderes Land. Und weil die energieintensive Industrie in Deutschland mit etwa 30 Prozent an der Bruttowertschöpfung ein starkes Gewicht hat, leidet mit ihr die ganze deutsche Wirtschaft unter internationaler Wettbewerbsunfähigkeit, so Böschen und Gerken. Unternehmen stellten ihre Investitionen zurück.

Aber auch die Baubranche hat zu kämpfen. Hypothekenzinsen und hohe Baukosten dämpfen die Nachfrage. Zudem verteuert die Leitzinspolitik der Europäischen Zentralbank, mit der sie die Inflation eindämmen will, Kredite für Firmen und Verbraucher:innen.

Aber nicht nur hinsichtlich Häuserbau ist die Kaufkraft der Verbraucher:innen zurückgegangen. Die Konsumlaune der Deutschen ist insgesamt im Keller. „Die Einkommen von Beschäftigten sinken angesichts hoher Inflation seit 2020 dramatisch um 5,2 Prozent. Allein im ersten Quartal 2023 sind es wieder 2,3 Prozent“, so Herbert Behrens, Vorsitzender der Linksfraktion im Stadtrat Osterholz-Scharmbeck.

Und zu guter letzt haut der anhaltende Fachkräftemangel wichtige Glieder aus der Wertschöpfungskette. Im ersten Quartal lag die Zahl der offenen Stellen auf einem Rekordniveau, auf 1,75 Millionen, so das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Fehlende Arbeitskräfte verunmöglichen nicht nur die Erfüllung von Aufträgen, sondern sie bremsen auch Investitionen aus.

 

Schlechte Rahmenbedingungen

 

Dass in Deutschland zu wenig investiert wird, um der Flaute zu entfliehen, habe aber auch strukturelle Gründe, so Gerken. Er nennt Bürokratie und Steuerrecht. „Insgesamt bleibt die Gesamtsteuerbelastung, ebenso der Bürokratieaufwand für steuerpflichtige Unternehmen im internationalen Wettbewerb zu hoch.“ Unzählige Vorschriften - nicht nur im Klima- und Energiebereich - bremsten die Investitionsbereitschaft der Unternehmen. „Deshalb müsste die ‚Deutschlandgeschwindigkeit‘ endlich bei sämtlichen Verwaltungsverfahren angewendet sowie bürokratische Hemmnisse konsequent abgebaut werden“, erklärt Gerken.

Und unternehmerische Handlungsfähigkeit schränkt das Steuersystem insofern ein, als dass der Fiskus seinen Unternehmen 30 Prozent vom Gewinn abnimmt. Soviel wie keine andere Industrienation. Arbeitnehmer:innen sind auch nicht besser dran. Der Spitzensteuersatz setzt bei Ledigen bereits ab einem zu versteuerenden Einkommen von ca. 63.000 Euro an, also bei der Facharbeiterin in der Autoindustrie.

 

Mögliche Lösungen

 

Was aber tun, damit Deutschland aus seinem Dauerdümpelmodus herauskommt? Bundeswirtschaftsminister Habeck schlägt einen Brückenstrompreis vor. Damit könnte man arbeiten, so Gerken: „Ein Industriestrompreis könnte die Transformation der Industrie begleiten und damit industrielle Arbeitsplätze und Wertschöpfung in Deutschland und auch im Elbe-Weser-Raum erhalten.“ Besser wäre aber, man läge den Fokus auf Maßnahmen, „die die Stromkosten für die gesamte Wirtschaft senken. Neben einer Entlastung bei Umlagen und Stromsteuer muss der weitere und schnellere Ausbau der erneuerbaren Energien (EE) vorangetrieben werden. Langfristige Stromlieferverträge zwischen EE-Anlagenbetreibern und Stromverbrauchern aus der Wirtschaft“ könnten hierzu einen Beitrag leisten.

Darüber hinaus versucht die Regierung mit der Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes und einem geplanten Wachstumschancengesetz, das Investitionsanreize und Steuervereinfachungen schaffen soll, der strukturellen Probleme Herr zu werden.

Laut Böschen ginge das Fachkräftegesetz in die richtige Richtung.

„Mit Punktesystem und Chancenkarte werden vernünftigerweise Hürden abgebaut für Fachkräfte und Ausbildungswillige, die wir dringend brauchen.“ Behörden müssten aber viel unterstützender aktiv sein. Es dürfe aber nicht - wie bei der Westbalkanregelung - wieder zu Ausbeutung und prekären Verhältnissen kommen.

Das Wachstumschancengesetz bezeichnet Gerken als einen „Lichtblick“, weil es die Unternehmen entlaste. „Erfreulich ist, dass im Gesetzentwurf auch eine Reihe von Vereinfachungen bei der Steuererhebung vorgesehen sind. Die Reduzierung der Erklärungspflichten von Kleinunternehmern oder die Anhebung der Ist-Besteuerungsgrenze sind Schritte in die richtige Richtung.“ Auch die Anpassungen bei den Abschreibungsregelungen entlasten die Betriebe von Bürokratie. „Diese Maßnahmen sollten allerdings noch konsequenter ausgestaltet werden, damit die angestrebten Investitionsanreize auch in der Breite der Wirtschaft wirken können.“

Behrens hält dagegen: „Das Wachstumschancengesetz setzt die Umverteilung nach oben fort. So wird die Hälfte der verringerten Steuereinnahmen für die Erweiterung des Verlustvortrags für Unternehmen vorgeschlagen (3,1 Milliarden Euro). Die extrem ungerechte Doppelbesteuerung von Renten wird nicht beseitigt und die Entlastung bei der Besteuerung der Dezemberhilfe 2022 begünstigt insbesondere die vermögenden Haushalte.“

 

Förderungen, Tarife und Vermögenssteuer

 

Gerken, Böschen und Behrens unterbreiten aber auch eigene Lösungsvorschläge. Laut Gerken müssten zielgerichtete Fördermaßnahmen zur Klimawende in der Wirtschaft vorangetrieben werden. Mit seinen unzähligen Windkraft-, Photovoltaik- und Biogasanlagen sowie dem geplanten LNG-Terminal in Stade würde der Elbe-Weser-Raum davon immens profitieren.

Zudem fordert er, dass neben der Zuwanderung ausländischer Fachkräfte auch die „inländischen Potenziale“ noch stärker gefördert werden müssten: „von gering qualifizierten Jugendlichen über die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen oder die Erhöhung der Arbeitszeit von Teilzeitbeschäftigten bis zur Beschäftigung Älterer.“

Böschen und Behrens fordern dagegen faire Löhne nach Tarif: „Wenn alle Unternehmen in Deutschland faire Löhne nach Tarif zahlen würden, stärkt das die Kaufkraft und würde auch der Staatskasse Milliarden bringen. Dabei helfen auch ein Spitzensteuersatz und eine Vermögenssteuer“, so Böschen.

Auch eine Reform der Einkommenssteuer sei nötig, sagt Behrens. Ein „Spitzensteuersatz, wie unter Kohl, auf 53 Prozent ab einem Einkommen von 76.000 Euro, sowie höhere Freibeträge würden jährlich 100 Milliarden Euro mehr für den Ausbau von Bus und Bahn, für Schulen und Kitaplätze, für bessere Pflege und ein gerechtes und modernes Gesundheitssystem bedeuten.“

Auch fordert der Linkenpolitiker eine Vermögenssteuer sowie eine reformierte Erbschaftssteuer. Beide brächten umgehend höhere Steuereinnahmen für Bund und Länder.

Und zu guter Letzt müsse die Schuldenbremse weg: Sie „ist nicht nur in Krisenzeiten ein entscheidendes Hemmnis, auftretende Probleme schnell zu lösen.“ Der Staat begrenzt mit ihr seine eigene Handlungsfähigkeit und setzt auf ominöse Selbstheilungskräfte des Marktes. Kapitalismus könne aber keine Krise, so Behrens.

 

(Vertreter der Mittelstandsunion der CDU haben leider nicht auf unsere Anfrage reagiert.)


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