Das autoritäre Potenzial - Beiträge zur offenen Gesellschaft Teil II
In dem ersten Beitrag zur offenen Gesellschaft sollte gezeigt werden, dass in rechtspopulistischen Angriffen auf die stets Wandel bringende Offenheit der Gesellschaft antisemitische Stereotype wirksam sind. Es wurde die Forderung formuliert, dass ein feierliches Einstehen für die offene Gesellschaft ein Gedenken an die antisemitischen Opfer der Deutschen erfordert: Nur das Engagement, welches das Grauen der Geschichte reflektiert, kann dessen Fortdauer in veränderter Form erkennen und bekämpfen.
Dr. Gerd Schwieger weist in seinem Leserbrief mit Recht daraufhin, dass ein Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus im Hinblick auf die Verteidigung der offenen Gesellschaft gegen Rechtspopulismus alle Opfergruppen einschließen muss. Schließlich zeige erst die „Summe aller Opfer“ das ganze Ausmaß dessen, was „Ausgrenzung, Intoleranz“ und „Feindschaft gegen missliebige Gruppen ... anrichten“, wie Schwieger ausführt. Dem ist unumwunden zuzustimmen. Unter Opfern gibt es keine Hierarchie. Menschen mit Behinderung, Sinti und Roma und Homosexuelle - sie alle sind ebenso Opfer wie die Juden und Jüdinnen.
Nun ist die Betonung, dass Ausgrenzung und Intoleranz so schlechte wie in letzter Konsequenz fatale Verhaltensweisen sind, zwar richtig. Warum diese Verhaltensweisen aber entstehen oder genauer formuliert: Warum nicht nur vereinzelte, sondern Menschenmassen innerhalb der offenen Gesellschaft ein Bedürfnis danach entwickeln, andere auszugrenzen oder im schlimmsten Fall maschinell zu vernichten - diese Frage bleibt noch offen. Sie zu beantworten, ist für ein Engagement für die offene Gesellschaft und gegen autoritäre Strömungen jedoch unerlässlich. Hat es sich darauf verpflichtet, die Offenheit der Gesellschaft zu verteidigen, was konsequent bedeutet, dass es der Wiederholung der Geschichte entgegensteht, reicht es nicht aus, lediglich die Folgen ausgrenzenden Verhaltens zu kennen. Menschen, deren Charakter bereits von starrer Intoleranz, Ausgrenzungsbedürfnissen und Unbeweglichkeit im Denken gezeichnet ist, lassen sich nicht ändern, nur weil man ihnen die Konsequenzen ihres Denkens aufzeigt. Gesellschaftliches Engagement muss früher und grundlegender greifen. Es muss die objektiven Mechanismen erkennen, die Menschen ausschließend und intolerant werden lassen; die autoritäre Charaktere hervorbringen, die grauenhafter Taten fähig sind. Gesellschaftliches Engagement für Offenheit muss verhindern, dass Menschen autoritätsgebundene Charaktere werden, die getrieben sind von der Sehnsucht nach der Zugehörigkeit zu einer ihnen übergeordneten und von gesellschaftlichen Widersprüchen bereinigten kollektiven Macht. Die Gründung eines solchen Kollektivs geht stets auf Kosten anderer.
In diesem Sinne der Aufklärung über den Ursprung jener Mechanismen wurde im ersten Beitrag die Auseinandersetzung mit Antisemitismus gefordert. Denn sie befördert eine Erkenntnis nicht primär darüber, wer „die Bösen“ sind, sondern über die gesellschaftlichen Bedingungen, die Menschen böse werden lassen.
Entsprang die antisemitische Verfolgungsgemeinschaft der Deutschen aus der demokratischen Weimarer Republik und rotten sich Faschist/innen und Rechtsextreme heute in demokratischen Staaten zusammen, so muss man zur Beantwortung der Frage zu den Ursprüngen ausgrenzender Bedürfnisse einen kritischen Blick auf die Strukturen offener Gesellschaften selbst richten. Die Gefahr für eine offene Gesellschaft ist nicht in schlechten Dispositionen der Menschen gelegen, sondern sie ist objektiv in ihrer ökonomischen Ordnung verankert.
Die Gefahr liegt aber nicht erst bei - wie es bei der Initiative Offene Gesellschaft heißt - sozialer Unsicherheit, Verteilungsungerechtigkeiten oder mangelnder Bildung der unteren Schichten. So etwas spielt zusätzlich zwar eine Rolle, führt aber nicht zwangsläufig zu autoritären Charakterstrukturen. Nicht jeder Mensch, der arm oder schlecht gebildet ist, wählt Rechtspopulisten. Das autoritäre Potenzial wird befördert durch die grundlegende ökonomische Organisation der bürgerlich-liberalen Gesellschaft. Anders als die viel beschworene Unsicherheit ist es vielmehr eine grundlegende Sicherheit, die die Mehrheit der Menschen umtreibt. Die Sicherheit nämlich, dass sie von Gegebenheiten abhängig sind, über die sich nicht verfügen. Das allein verhält sie bei allen Grund- und Freiheitsrechten zur Unmündigkeit. Wenn sie leben, wenn sie gut leben wollen, müssen sich die Menschen an die ökonomischen Gegebenheiten anpassen, über die sie nicht bestimmen und die sich nicht frei wählten. So müssen sie jene autonome Subjektivität durchstreichen, derer die offene Demokratie jedoch bedarf. Die Notwendigkeit solcher Anpassung, die Identifizierung mit Bestehendem und Macht als solcher, weil sie nunmal existiert, bringt das totalitäre Potenzial hervor. Verstärkt wird es von der Wut, die der stumme Zwang zur Anpassung, die Angst unterzugehen selbst hervorbringt. Autonomie und die Verantwortlichkeit der subjektiven Freiheit werden auf diese Weise als Last erfahren, die Ohnmacht vor den Gegebenheiten als Nichtigkeit der eigenen vereinzelten Person. Dieses Verhältnis schwächt das Ich der Menschen und solche Schwächung des Ichs ist die Grundlage, warum Menschen in autoritäre Gemeinschaften flüchten wollen. Sie versprechen sich davon, dass von der Stärke der Gemeinschaft etwas auf sie übergeht. Nur bezieht sich die Stärke solcher Gemeinschaften aus dem Leid anderer.
Antisemitismus ist eine wahnhafte Reaktion der Menschen auf ihre Ordnung und eine Flucht in die autoritäre Gemeinschaft. Er ist ein Weg, die Ordnung anzugreifen, ohne sie grundlegend zu hinterfragen. Das verrät unter anderem das von jüdischen Weltverschwörung. In ihm drückt sich Hass sowohl auf die Mächtigen als auch auf die Schwachen aus. Ein Hass auf die eigene Ohnmacht bei gleichzeitiger Identifikation mit Macht als solcher.
Eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus und die Bekämpfung autoritärer Strömungen erfordert somit die Selbstkritik der offenen Gesellschaft. Und Selbstkritik zu leisten, ist unverzichtbares Moment der Offenheit einer Gesellschaft.