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Lena Stehr

Kultiviertes Fleisch statt Fleischkultur? 

Für Forscher ist Laborfleisch das „Essen der Zukunft“. Fleischer sehen es sportlich, die Agrarindustrie könnte die Entwicklung aber verschlafen.

Durchschnittlich 78,7 Kilo Fleisch verzehrte jede:r Deutsche im Jahr 2020. Der durchschnittliche weltweite Jahreskonsum lag 2020 bei rund 42,8 Kilogramm - zehn Jahre zuvor waren es noch 41,6 Kilogramm. Unumstritten ist dabei, dass intensive Nutztierhaltung durch einen hohen Flächen- und Wasserverbrauch gekennzeichnet ist und mit ihren Emissionen zum Klimawandel beiträgt - vom Tierwohl einmal ganz abgesehen.

Zum „Essen der Zukunft“ gehört deshalb für Prof. Dr. Nick Lin-Hi, Professur für Wirtschaft und Ethik an der Universität Vechta, kultiviertes Fleisch aus dem Labor. Auf Einladung der Bremer Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. referierte der Forscher, der selbst gern Fleisch isst, kürzlich in Bremen zum Thema In-vitro-Fleisch, das ihm zufolge eines Tages die konventionelle Tierzucht ergänzen oder sogar ersetzen werde.

In der Forschung passiere ganz viel, nahezu wöchentlich würden neue Meilensteine erreicht, so Lin-Hi. Momentan arbeiten weltweit rund 150 Unternehmen oder Start-Ups an der Herstellung von Laborfleisch - künstliches Fleisch wurde auch schon an der Hochschule für angewandte Chemie in Reutlingen mit einem 3-D-Drucker produziert. Und während die ersten Produkte in Singapur und den USA bereits auf dem Markt sind, hat die deutsche Firma The Cultivated B mit Sitz in Heidelberg im September 2023 erstmals die Zulassung für eine Wurst aus dem Labor in der EU beantragt.

 

Doch was ist Laborfleisch überhaupt?

 

Um In-vitro-Fleisch herstellen zu können, wird einem lebenden Tier zunächst Muskelgewebe entnommen. Aus diesem Gewebe werden Stammzellen gewonnen und mit einem Nährmedium in einem Behälter (Bioreaktor) vermehrt. Für die Nährlösung wird oft sogenanntes Kälberserum verwendet, das aus dem Blut ungeborener Kälber gewonnen wird. Das Muttertier muss dafür geschlachtet werden, der Fötus stirbt. Über ein Trägergerüst, meist aus tierischem Kollagen, wachsen die Zellen dann zu einer größeren Masse zusammen. Zusätzlich werden in ähnlicher Weise Fettzellen gezüchtet, um zusammen mit dem Muskelgewebe den Geschmack von echtem Fleisch möglichst nahe zu kommen.

Einige Hersteller arbeiten daran, ohne tierische Bestandteile auszukommen und mittels Gentechnik oder auf Basis von Algen oder Pilzen künstliches Fleisch zu kultivieren. Im Fall der Wurst, die jetzt in Europa auf den Markt soll, haben die Hersteller Zellen von einem Schwein verwendet. Der weitere Herstellungsprozess soll laut der Firma aber ohne tierisches Serum auskommen, berichtet der Bayrische Rundfunk.

Prof. Dr. Nick Lin-Hi ist sich sicher, dass in Deutschland kein Produkt auf den Markt kommen werde, bei dem noch Kälberserum eingesetzt werden müsse.

 

Eine Frage des Preises

 

Der Forscher rechnet zudem damit, dass Laborfleisch aufgrund verkürzter Wertschöpfungsketten innerhalb kürzester Zeit zum gleichen Preis - und perspektivisch auch günstiger - als konventionell erzeugtes Fleisch verkauft werden wird.

Und dass die Verbraucher:innen häufig das kaufen, was am günstigsten ist, weiß auch Anja Ilchmann von der Feinkost Ilchmann GmbH aus Osterholz-Scharmbeck. Anstatt aber auf neue Technologien zur Herstellung von Laborfleisch zu setzen und ein immer größeres Angebot zu schaffen, sollten zunächst andere Probleme angegangen werden, findet Ilchmann. „In den Supermärkten wird viel zu viel Fleisch weggeschmissen, von den vielen Plastikverpackungen einmal ganz abgesehen“, sagt sie. Gesundes, selbst erzeugtes Fleisch wie zum Beispiel von Hermann Wellbrock aus Freissenbüttel und anderen Höfen aus der Region stehe ohnehin im Kontrast zur problematischen Massenproduktion, sagt Fleischermeister Stefan Gawehn aus Gnarrenburg. Er sei grundsätzlich offen für Neues und auch kein Gegner von Laborfleisch, ist aber der Ansicht, dass man Laborfleisch insbesondere auf Zusatzstoffe kritisch hinterfragen sollte.

 

Keine Konkurrenz zu Fleisch aus dem Fachgeschäft

 

Laut Bernd Miesner, Obermeister der Fleischerinnung Elbe-Weser mit eigener Schlachterei in Sothel (Landkreis Rotenburg), beobachte der Fleischerverband die nicht aufzuhaltende Entwicklung des Laborfleischs genau. Prognosen gingen davon aus, dass in 20 Jahren mehr Laborfleisch verkauft werde als vegetarisch-vegane Produkte. Als Konkurrenz zu hochwertigem „echtem“ Fleisch aus dem Fachgeschäft sieht Miesner dabei das In-vitro-Produkt aber nicht. Wer Qualität und keine Massenware wolle, werde weiter zum Fleischer seines Vertrauens gehen. Doch wie genau sich das Kaufverhalten der Menschen entwickeln werde, könne natürlich niemand genau sagen.

Auch, wann das Laborfleisch in der deutschen Gastronomie ankommt, ist noch offen. Ulf Ahrens vom Gasthof Ahrens in Kuhstedt betont, dass sich die Gastronomie schon seit Jahrzehnten mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinander setze. „Auch Laborfleisch wird in Zukunft mit Sicherheit ein Thema. Aber im Moment gibt es dafür in meinem Betrieb keinen Markt, wir praktizieren eine klassische, frische Küche und setzen weiter auf gute Produkte aus der Region“, so Ahrens.

Die Verbraucherzentrale weist darauf hin, dass insbesondere eine transparente Kennzeichnung wichtig sei. Es müsse klar erkennbar sein, ob das Fleisch oder der Fisch aus dem Labor stamme. Umfragen zeigten zudem, dass viele Menschen Vorbehalte gegen im Labor gezüchtetes Fleisch haben. Prinzipiell gelte eine überwiegend pflanzliche Ernährung als der nachhaltigste Weg, sich zu ernähren.

 

Agrarindustrie muss sich einklinken

 

Für Lin-Hi ist Laborfleisch jedenfalls eine große Chance für die Gesellschaft auf eine nachhaltige Fleischproduktion. Er fürchte aber, dass Deutschland die Chance verpasse, den Prozess aktiv mitzugestalten. Jetzt sei der Zeitpunkt für Agrarindustrie und Landwirtschaft, um sich einzuklinken und an der Produktion - zum Beispiel von Nährmedien - oder an der Bereitstellung von Bioreaktoren beteiligt zu sein und nicht von anderen Ländern abgehängt zu werden. Es brauche mutige Entscheidungen und die gemeinsame Entwicklung von Geschäftsmodellen, damit es der deutschen Agrarindustrie am Ende nicht wie der Automobilindustrie gehe, die zu lange am Verbrenner festgehalten habe und von der Konkurrenz abgehängt worden sei.


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