Tom Boyer

From London

London. Unser freier Mitarbeiter Tom Boyer absolviert nach seinem Abi einen einjährigen Freiwilligendienst in London und schreibt nun eine Kolumne darüber.

An einem heißen Sommertag setzte ich mich nach dem Joggen im Park unter einen Baum und lauschte dem beruhigenden Plätschern der nahegelegenen Fontänen in meinem Lieblings-abschnitt des Hyde Parks. Dabei fielen mir die Socken eines jungen Mannes auf. Ich erkannte ein schwarzes P in altertümlich verzierter Schrift - das Logo einer Fashionmarke eines deutschen Youtubers. Ich ging auf den jungen Mann zu und fragte: “Are these socks from the Brand “Peso”?” René - so der Name des Mannes - antworte auf Englisch, aber mit einem auffällig deutschen Akzent. Nach zwei Worten unterbrach ich ihn, dass er auf Deutsch weiterreden könne. Wie sich herausstellte, war der Osnabrücker Student - „the tall one“, wie ich ihn später nannte - während seiner Semesterferien in London unterwegs.

Die folgenden Wochen waren wir zusammen feiern, Bouldern, in Museen oder beim Karneval. Dass ich ihn nach den Socken fragte, war natürlich in erster Linie ein Vorwand, Rene kennenzulernen, auch wenn es mich tatsächlich interessierte, ob Socken eines deutschen Youtubers in London ein Ding sind.

Auch wenn ich immer schon extrovertiert war, hier in London hat sich das noch einmal gesteigert. Die eben geschilderte Situation ist charakteristisch für die ersten Monate. Ich gehe auf Menschen zu, will erfahren was sie antreibt, was sie denken und warum sie es denken. Ich bin neugierig. Ich will den Ort, an dem ich bin, und seine Menschen verstehen. Dabei lerne ich auch mich besser kennen.

Theoretisch kann ich sein wer ich will, keiner kennt mich. An einem fremden Ort ist es in gewisser Weise möglich zu sehen, wie zufrieden man wirklich mit sich selbst ist. Wie sehr habe ich mich verändert? Möchte ich mich, vielleicht sogar nur unbewusst, von mir selbst und von alten Verhaltensweisen entfernen? Wie beeinflusst mich der neue Ort?

Aber London hat mich nicht nur neugieriger gemacht, sondern auch toleranter. Auch wenn ich vorher mit anderen Ansichten und Meinungen umgehen konnte, fällt es mir hier wesentlich einfacher – fast – jede andere Meinung und Einstellung nachzuvollziehen. Ob politisch, religiös oder gesellschaftlich.

Vorher habe ich mich in Meinungsaustauschen häufig selbst ohne Grund unter Druck gesetzt.

Jetzt bin ich entspannter, vergleiche mich weniger mit anderen.

Interessanterweise hat diese neue Entspanntheit den Aufenthalt in London mittlerweile in einer Älterwerden im Schnelldurchlauf verwandelt. Erst war die Devise, möglichst viele Menschen kennenzulernen. Daraus entwickeln sich dann teils Freundschaften und teils verliefen Bekanntschaften ins Nichts.

Je länger der Aufenthalt aber andauerte, desto weniger motiviert war ich irgendwann, Menschen so offensiv wie über die Socken-Attacke anzusprechen. Ich ließ mehr auf mich zukommen und war gespannt, was sich ohne Anstrengung ergeben würde. Im Hinterkopf war dabei auch der Gedanke, dass ich in wenigen Wochen weiterziehen werde.

So entwickelte sich von Verhalten von kindlicher Neugier und Direktheit zu einer gewissen Zurückhaltung: Ich wollte nicht mehr zu viel in kurz andauernde Beziehungen investieren. Dieses Verhalten ähnelt dem von Menschen im Alter meiner Eltern. Die sind um die 60. So wurde ich hinsichtlich meiner Art und Weise Menschen kennzulernen in sechs Monaten um die 40 Jahre älter.

Und ich hoffe, diesen neuen Charakterzug entspannter Offenheit gepaart mit ernsthafter Neugier an Menschen in meinem Leben beizubehalten und zu kultivieren. Ich denke, er wird mich an viele fremde Orte bringen und erlaubt es mir, neue Menschen und Kulturen kennenzulernen. Er wird mir zeigen, was Leben wirklich bedeutet.


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