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Lena Stehr

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Niedersachsen. "Es ist fünf vor 12" - Akuter Notstand in den Kinderkliniken.

Schwer kranke Kinder müssen aufgrund von Personalmangel teilweise in hunderte Kilometer entfernte Kliniken verlegt werden.

Schwer kranke Kinder müssen aufgrund von Personalmangel teilweise in hunderte Kilometer entfernte Kliniken verlegt werden.

Bild: Photographee.eu

Das wahre Problem in diesem Infektwinter - da sind sich Mediziner:innen aus der Region einig - sind weniger die Infekte an sich als vielmehr ein schwer angeschlagenes Gesundheitssystem, auf das sie treffen.

Es ist die Horrorvorstellung aller Eltern: Das Kind ist schwer erkrankt, muss ins Krankenhaus, doch es kann in der nächstgelegenen Kinderklinik nicht behandelt werden. Weil derzeit eine massive Welle von Influenza- und RSV-Infektionen über Deutschland rollt, unter der vor allem kleine Kinder leiden, komme es vor, dass lebensbedrohlich erkrankte Kinder in Kliniken verlegt werden müssen, die teilweise hunderte Kilometer entfernt vom Wohnort liegen, berichtete Dr. med. Michael Sasse, leitender Oberarzt von der Kinderintensivstation der Medizinischen Hochschule Hannover kürzlich beim Live-Talk der Ärztekammer Niedersachsen.

Infektionswellen mit Grippe oder RSV (Respiratorische Synzytial-Virus) seien zwar nicht ungewöhnlich, betonte die Kinder- und Jugendärztin Angela Schütze-Buchholz aus Syke bei Bremen, es mangele aber an vielen Stellen an Kapazitäten, insbesondere im ländlichen Bereich. Zum einen seien seit Beginn der Corona-Pandemie viele Pflegekräfte aus dem Beruf ausgeschieden, zum anderen dauere die Ausbildung zur Kinderpflegekraft seit der Generalisierungsreform länger als vorher. Hinzu komme außerdem, dass viele Pflegekräfte, die selbst Eltern seien, keine Spätschichten übernehmen könnten, wenn Kitas zum Beispiel nur bis 16 Uhr geöffnet seien.

 

Kein normaler Dienstplan

 

Es herrsche insgesamt eine Personalknappheit, da immer wieder Intensivkapazitäten abgebaut würden, sagt Dr. Markus Krüger, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Elbe Klinikum Stade. Krankheitsbedingt sei die Klinik pflegetechnisch am Limit. Ein normaler Dienstplan sei seit Wochen nicht mehr möglich. Die Mitarbeitenden müssten sehr viele Überstunden machen und teilweise ihre Urlaubstage abbrechen oder verlegen. In Bezug auf das Patientenaufkommen sei die Situation aber nicht dramatischer als in den vergangenen Jahren. Die RSV-Welle sei im vergangenen Jahr sogar schwerwiegender als in diesem Jahr gewesen, sagt Krüger.

 

Kritik an Lauterbachs Reformplänen

 

Siegfried Ristau, Geschäftsführer der Elbe Kliniken Stade-Buxtehude und Vorsitzender des Verbandes der Krankenhausdirektoren - Landesgruppe Niedersachsen/Bremen, kritisiert indessen die Reformpläne von Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der das System der Fallpauschalen überwinden will.

Pro Patient und Diagnose erhalten Kliniken momentan - abhängig von Krankheitsart, Schwere der Erkrankung und der erbrachten Leistung - eine bestimmte Vergütung. Die Kliniken finanzieren sich zu 100 Prozent aus diesen Fallpauschalen, erhalten aber nur dann Geld, wenn auch eine Behandlung stattfindet.

„Kliniken haben sehr hohe fixe Vorhaltekosten, die anfallen, auch wenn - vereinfacht gesagt - keine Patientin oder kein Patient kommen würde“, sagt Ristau. Dies resultiere daraus, dass man im Rahmen der Daseinsvorsorge jeden Tag rund um die Uhr Personal und die entsprechende Infrastruktur vorhalten müsse, um in Notfällen sofort einsatzbereit zu sein. Aufgrund der krankheitsbedingten Personalausfälle könnten seit Monaten nicht alle vorhandenen Stationen und Funktionsbereiche wie z.B. der OP voll ausgelastet werden. „Bei nahezu gleichbleibenden Vorhaltekosten und ohne dass wir entsprechende Einnahmen in dem Umfang erzielen. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass ein Grundpfeiler der Reformierung die Bereitstellung von Vorhaltekosten ist, die es bislang schlicht nicht gibt“, betont Ristau.

Beängstigend sei, dass die Reformierung keine Steigerung, sondern lediglich eine Umverteilung der Gelder in einem unterfinanzierten System vorsehe. Diese Misere führe dazu, dass ein Großteil der Kliniken die Gehaltszahlungen derzeit mit Krediten finanzieren müsse, was bei fortwährender Entwicklung zwangsläufig zur Zahlungsunfähigkeit vieler Einrichtungen führe. „Es ist kurz vor 12 und bedarf deshalb zwingend einer Reform, die auch sicherstellt, dass sie die wirtschaftliche Instabilität von Kliniken rechtzeitig abfedert“, so Ristau.

Positiv sei, dass die Reform bei der Neonatologie (Neugeborenenmedizin) 60 Prozent Vorhaltekosten vorsehe, ergänzt Krüger. Die Pädiatrie (Kinder- und Jugendheilkunde) sei aber bislang mit lediglich 40 Prozent Vorhaltekosten berücksichtigt. Dies sei nicht nachvollziehbar und müsse dringend nachgebessert werden.

 

Krankheitsausfälle belasten auch das Kreiskrankenhaus

 

Obwohl das Kreiskrankenhaus Osterholz über keine Kinderklinik verfüge, sei auch hier das Personal derzeit stark durch vermehrte Krankheitsausfälle belastet, berichtet Kreissprecher Sven Sonström. Zusätzlich zu den nach wie vor vorhandenen an Corona Erkrankten kämen gegenwärtig viele Menschen mit Influenza- und anderen Infektionskrankheiten ins Haus. Sie müssten sehr aufwendig isoliert und betreut werden, was einen zusätzlichen Arbeitsaufwand für das Personal darstelle.

Um dem Personalmangel entgegenzuwirken, müssten zum einen mehr Studienplätze für Ärztinnen und Ärzte in Deutschland geschaffen werden und die Ausbildung in der Pflege noch attraktiver gemacht werden, so Sonström.

 

Mehr Aufwand - Mehr Bezahlung

 

Dr. med. Michael Sasse wünscht sich zudem, dass künftig stärker berücksichtigt werde, dass die Arbeit mit Kindern deutlich aufwendiger sei, als die mit Erwachsenen. Und das sollte sich auch in der Bezahlung niederschlagen, meint der Oberarzt. Einen Tropf zu legen könne bei einem Kind manchmal zwei Stunden statt fünf Minuten dauern. Zudem müsse mehr mit den Angehörigen geredet werden und es sei mehr handwerkliches Geschick bei Operationen erforderlich. Dennoch würde zum Beispiel eine Lebertransplantation bei einem Kind ähnlich bezahlt wie bei einem Erwachsenen, so Sasse.

Die Kinder hätten schon in der Corona-Zeit viel eingesteckt, um die Erwachsenen zu schützen. Jetzt sei es an der Zeit, dass die Gesellschaft etwas zurückgebe und die Politik geschlossen dafür sorge, dass sich die Situation an den Kliniken verbessere, so Sasse.

Ob das wirklich passiert, solange sich mit kranken Kindern nicht so viel Geld verdienen lässt wie zum Beispiel mit Erwachsenen, die ein neues Hüftgelenk brauchen, bleibt abzuwarten.


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