Memento mori der Hoffnung
Es beginnt mit dem dritten Akt, dann kommt der zweite und am Ende dann der erste. Die Welt geht unter, Kalifornien versinkt im Meer, die Straßen brechen auf, die Sterne verschwinden. Im All geht buchstäblich das Licht aus. Gründe kennen die Menschen in der einen Welt, in der die Stephen-King-Verfilmung „Life of Chuck“ spielt, nicht. Rätselhaft auch, dass an allen Ecken und Enden dieser Welt das Bild eines Buchhalters namens Charles Krantz auftaucht, genannt Chuck. Chuck wird auf Werbetafeln und später auch in Projektionen für „39 wunderschöne Jahre“ gedankt, aber keiner weiß, wer er ist.
Wunderbare Figuren
Von dieser Prämisse ausgehend entfaltet Regisseur Mike Flanagan eine zuerst rätselhafte und dann ungemein berührende Geschichte über einen frühen Tod und ein Leben, das trotzdem voll gelebt werden will, auch wenn man weiß, dass es nur ein kurzes sein wird. In „Life of Chuck“ bekommt man in ihrem Glück wie auch in ihrer Trauer wunderbare, das Leben des Titelhelden bevölkernde Figuren zu sehen, manche nur für allerdings nachhallende Momente. Die Großmutter, die ihrem Enkel zeigt, was es heißt zu tanzen. Der Großvater, der versucht, den Schmerz über den Tod seines Sohnes und seiner Schwiegertochter in Alkohol zu ersäufen. Die Hippie-Lehrerin, die Chuck Walt Whitman nahebringt. Die Mitschülerin, mit der er tanzt, die Frau, die er zufällig trifft, während er tanzt.
Das Problem beim Schreiben über diesen Film ist: Man kann nur wenig über ihn sagen, ohne massiv zu spoilern. Und „Life of Chuck“ fährt ein paar Plot Twists auf, die keine Gimmicks sind, sondern sozusagen strukturbildend: Das Skript von Flanagan bezieht – wie auch die literarische Vorlage Stephen Kings – seine emotionale Wucht unter anderem aus überraschenden Volten, die die Geschichte und mit ihr die Figuren schlagen.
Die blitzartige Erkenntnis darüber, was es mit den Figuren aus dem dritten, also dem ersten Akt, auf sich hat, mit dem der Film beginnt, und was sie mit Chuck zu tun haben, der im zweiten tanzen darf, wenige Monate bevor er stirbt – all diese Fragen werden im letzten, ersten Akt beantwortet, der die Geschichte eines Kindes und später Jugendlichen erzählt, der erst seine Eltern und dann seine Großeltern verliert und der im Schulunterricht (wie auch die Schüler im dritten Akt) ein Gedicht von Walt Whitman liest, das King und Flanagan wortwörtlich nehmen:
Do I contradict myself?
Very well then I contradict myself,
(I am large, I contain multitudes.)
[in etwa: „Widerspreche ich mir selbst? / Nun, dann widerspreche ich mir selbst, / (ich bin groß, ich berge Vielheiten)]
Allzumenschliche Monster
So weit, so kryptisch. Wichtig jedenfalls: „Life of Chuck“ ist weder in Text- noch in Bildform eine Horrorerzählung. Auch wenn sie im letzten Drittel eine Geistergeschichte ist. Flanagan gehört zu den Regisseuren, die aus Stephen Kings Stoffen gute Filme machen – den 2017 erschienenen „Gerald‘s Game“ zum Beispiel – und die ihre eigenen Erzähltechniken, etwa der weltbesten Horrorserie „Haunting of Hill House“ oder der Ansammlung von Edgar-Allan-Poe-Variationen „The Fall of the House of Usher“, erkennbar an den literarischen Verfahren Stephen Kings geschult haben.
Das Ergebnis sind ungemein welthaltige Horror- und Fantasy-Universen, in denen die Monster auf die Wirklichkeit verweisen, ohne zu Zeichen degradiert zu werden. Die Werke Kings gelten immer noch als „leichte“ und damit als angeblich banale Literatur und nicht als die Arbeiten von einem der maßgeblichen amerikanischen Schriftsteller des 20. wie auch des 21. Jahrhunderts. King stellt in seinen Beiträgen zum Horrorgenre die Bezüge zwischen unserer Welt und dem Phantastischen in ähnlicher Weise her: Die Vermischungen und Bezüge zwischen beiden Sphären, die phantastischen und die allzu menschlichen Monster, die Geister und die eigenen Ängste, sind leicht zu decodieren und bleiben trotzdem vielschichtig.
Schönster Film 2024
Die Geistergeschichte, die „Life of Chuck“ erklärt, ist beklemmend, aber nicht furchteinflößend, sondern geradezu uplifting. Beklemmend ist, wie hier die Prophezeiung des Todes zuerst von Nachbarn, dann von den Menschen, die einem nahe sind, und dann von einem selbst in Szene gesetzt wird. Chucks Großvater warnt seinen Enkel, das Turmzimmer des alten viktorianischen Hauses zu betreten, das Chuck nach dem Tod der Eltern und seiner ungeborenen Schwester bewohnt. Und wie jeder neugierige Mensch seit „Blaubarts Zimmer“ steigt der Junge, da eigentlich schon ein junger Mann, irgendwann die Treppe hinauf.
Die Beklemmung aber weicht einer für das Horrorgenre untypischen, für den Humanisten Stephen King aber gar nicht mal so abwegigen Weltzugewandtheit, einer Menschen- und einer gesunden Selbstliebe. „Ich bin wunderbar“, heißt es im vorletzten Satz von Stephen Kings Kurzroman, „ich verdiene es, wunderbar zu sein, und ich enthalte Vielheiten.“ Und Mike Flanagans nah am Text entlang segelnde Verfilmung gehört zum Schönsten, was das Filmjahr 2024 hervorgebracht hat.
Life of Chuck läuft am Dienstag, den 25.11., und am Mittwoch, den 26.11., um 20 Uhr in den Ritterhuder Lichtspielen.

