Kommentar: Die Linke und die Illusion des harmlosen Antizionismus
Am 10. Mai 2025 nahm die Linkspartei auf ihrem Bundesparteitag die Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) als Antisemitismusdefinition an und lehnt die „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) ab. Hintergrund sind zwei Bundestagsresolutionen, die auf Grundlage der IHRA-Definition BDS und die Infragestellung von Israels Existenzrecht als antisemitisch benennen – auch diese weist die Linke zurück.
Die Linke behauptet, die Resolutionen unterlaufen „den Kampf gegen Antisemitismus als komplexe, gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Nicht zuletzt, weil hier eine Definition als tragfähiges Fundament fehlt.“ Ein solches bietet der Linkspartei die JDA, die 2021 als Gegenentwurf zur IHRA veröffentlicht wurde. Die Definition ist aber analytisch unbrauchbar, weil sie eine willkürliche Bewertung dessen zulässt, was Antisemitismus ist und was nicht. Außerdem kann sie mit der eigentlichen Definition die meisten ihrer eigenen Leitlinien nicht begründen. Sie ist vielmehr eine Deklaration, die palästinensische Narrative bedient und zentrale Erkenntnisse der Antisemitismusforschung ignoriert, um sich den Antisemitismus für politische Zwecke zurechtzulegen.
Sie definiert Antisemitismus als „Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).“ Damit wird Antisemitismus aber verengt. Seine moderne Variante besteht vor allem darin, Juden nicht nur als Juden zu identifizieren, sondern als Personifizierung des Unheils und der Spaltung – als das Element, das lügt, um seine wahren Interessen zu verbergen.
Auch reduziert die JDA Antisemitismus auf eine Form von Rassismus - der eigenen Aussage widersprechend, dass Antisemitismus eigene nicht dem Rassismus entsprechende Spezifika besitzt. Den vertreten zwar noch einige Neonazis, aber linker, muslimischer und bürgerlicher Antisemitismus funktionieren anders. Damit ignoriert die JDA die Vielfalt seiner Ausdrucksformen im 20. und 21. Jahrhundert.
Sie reflektiert zudem nicht die empirisch belegte Tatsache, dass Antisemitismus heute – nach der Schoah – vor allem verdeckt, codiert und israelbezogen bzw. antizionistisch auftritt. Das verharmlost diese Ausdrucksformen. Gerade dem Antizionismus, der gegenwärtig die dominierende Erscheinungsform des Antisemitismus darstellt, stellt sie die Bescheinigung aus, nicht antisemitisch zu sein – und bietet dadurch Anschlussmöglichkeiten für antiisraelische Ressentiments bis hin zur Delegitimierung des jüdischen Staates.
Die Leitlinien der JDA erkennen zwar an, dass die Identifizierung von Juden mit dem Übel schlechthin antisemitisch ist – auch wenn dieses Motiv auf Israel übertragen wird. Doch zugleich erklären sie, die Kritik am Zionismus oder die Ablehnung der Gründungsprinzipien Israels sei nicht per se antisemitisch. Auch wird es nicht als antisemitisch gewertet, Israel als „Apartheidstaat“ zu bezeichnen oder zum Boykott jüdischer Institutionen aufzurufen.
Damit wird eine künstliche Trennung zwischen Antisemitismus und Antizionismus eingeführt – ebenso wie zwischen Jude und Zionist. Die Verfolgung von Juden als Zionisten gilt dann nicht mehr als antisemitisch, weil sie angeblich nicht als Juden selbst verfolgt würden. Das ist perfide, falsch und widerspricht sogar der eigenen Definition. Denn die zionistische Organisierung ist eine Organisierung als Juden. Juden organisieren sich als Juden in Form eines Staates, weil sie als Juden verfolgt wurden und werden. Die gemeinsame Organisierung als Juden – den Zionismus – anzugreifen bedeutet, die Juden ohnmächtig und vereinzelt vor die potenziell antisemitischen Nicht-Juden stellen zu wollen, sie also antisemitischer Gewalt auszuliefern. Das ist als Versuch anzusehen, Juden aktiv zu gefährden: Antizionismus bedeutet, Juden als Juden anzugreifen.
Die Linke misst jüdischer Handlungsfähigkeit hingegen keine Legitimität bei und möchte offensichtlich die Juden wieder in Abhängigkeit wissen – nicht nur von der Gnade der Weltgemeinschaft, sondern auch der eigenen.
Es muss jedoch betont werden, dass auch die IHRA-Definition ein zentrales Problem aufwirft. Wenn sie sagt, es sei antisemitisch, Israel als „jüdisches Kollektiv“ anzugreifen, trennt sie das Judentum von Israel. Dabei gehört die Verbindung von Judentum und Israel zum Selbstverständnis des Zionismus – sichtbar etwa im Rückkehrgesetz von 1950, das jedem Juden das Recht einräumt, Israeli zu werden. Der Antisemit bringt diesen Zusammenhang in seinem Wahn zwar verzerrt zur Sprache, trifft damit aber einen realen Kern: Jeder Jude ist potenziell Teil des israelischen Staatsvolks und für den Antisemiten stets potenzieller „Besatzer“. Dass der Antisemit diesen verteidigungswürdigen Punkt als zu überwindendes Übel versteht, ist Ausdruck seines Wahns – und kann nicht dadurch aufgehoben werden, dass man zu beweisen versucht, dass nicht alle Juden Zionisten sind.
Die Linke scheint die zionistische Emanzipation als direkte Kränkung der eigens unterstellten antifaschistischen Courage zu erfahren. Mit ihrem Beschluss beweist sie daher erneut die Notwendigkeit des Zionismus.