Kommentar: Das Schlechte, das den Nazismus ermöglichte 

Patrick Viol 165

Patrick Viol legt an Lisa Paus Reaktion auf Alice Weidels Äußerzung zur Niederlage Deutschlands dar, wie auch bei "befreiten" Deutschen der Nazismus fortlebt.

1945 wurden nicht die Deutschen, sondern Juden und politische Häftlinge aus den KZ befreit.

1945 wurden nicht die Deutschen, sondern Juden und politische Häftlinge aus den KZ befreit.

Bild: Thomas Nordwest - Equable Expression

Es ist von postnazistischer Ironie, dass immer dann, wenn Rechtsradikale mit Aussagen für Empörung sorgen, sich offenbart, dass nicht nur unter ihnen, sondern auch unter den wiedergutgewordenen, Schuld bekennenden Deutschen der Nazismus fortlebt.

Exemplarisch zeigt sich das an der Reaktion von Familienministerin Lisa Paus (Grüne) auf Alice Weidels Aussage im Sommerinterview mit der Tagesschau. Die Vorsitzende der AfD erklärte, sie habe am Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland deshalb nicht - wie ihr Kollege Tino Chrupalla - am Empfang der Russischen Botschaft in Berlin teilgenommen, weil sie nicht „mit einer ehemaligen Besatzungsmacht“ die „Niederlage des eigenen Landes (...) befeiern“ wolle. Daraufhin schrieb Paus auf X (vormals Twitter): „Weidel stellt die Befreiung Nazi-Deutschlands durch die Alliierten als Niederlage Deutschlands dar. Dazu fällt mir ein Brecht-Zitat ein: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch. Oder kurz gesagt : #NiewiederFaschismus.“ Und in einem zweiten Tweet verweist sie jene, die das mit der Befreiung nicht auf die Kette kriegen wollen, auf die Rede Weizsäckers von 1985, in welcher der 8. Mai zum ersten Mal von einem führenden deutschen Politiker als Tag der Befreiung bezeichnet wurde.

Nun aber war der 8. Mai in der Tat eine Niederlage Deutschlands bzw. der nationalsozialistischen Deutschen. Dass Weidel das so bezeichnet, ist weder falsch, noch Ausdruck ihrer rechtsradikalen Ideologie. Die drückt sich darin aus, dass sie wegen der Niederlage Nazideutschlands nicht in Feierstimmung gerät und die antisemitische Volksgemeinschaft indirekt als ihr eigenes Land bezeichnet.

Paus kritisiert nun fälschlicherweise lediglich die Bezeichnung „Niederlage“, nicht aber das eigentliche rechtsradikale Gedankengut: Weidels Identifikation mit Nazideutschland. Ihr Tweet scheint weniger kritischer Gedanke als Reflex auf Grundlage ihrer Identifikation mit dem befreiten, guten Deutschland zu sein, weshalb sie auch jemand anderen, nämlich Weizsäcker, für sich sprechen lassen muss, auf den die Möglichkeit von Paus Identifikation zurückgeht.

In seiner Rede bezeichnete er die Ermordung der Juden zwar als beispiellos und bekannte sich zur Schuld der Deutschen. Weil er diese aber nur als individuelle Schuld fasste, bot er den Deutschen zum einen eine Verdrängungsmöglichkeit der kollektiven Barbarei durch Schuldbekenntnis. Zum anderen konnte er durch diese Entlastung des Kollektivs den 8. Mai in einen Tag deutscher Identitäts- und Gemeinschaftsstiftung verwandeln. So heißt es in seiner Rede: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Mit gutem Willen kann man es so verstehen, dass die Alliierten die nachfolgenden Generationen davon befreite, unter dem NS zu leben. Denn 1945 wurden nicht die Deutschen, sondern Juden und politische Häftlinge aus den KZ befreit. Die Deutschen wurden besiegt. Aber: Mit der Entlastung des deutschen Kollektivs half Weizsäcker zugleich dessen angeknacktes Gemeinschaftsempfinden zu heilen und rettete das deutsche Wir - „das Schlechte, das den Nazismus möglich machte“, als welches der jüdische Kritiker Max Horkheimer es erkannte.

Und wenn heute die Grüne Lisa Paus um das befreite Deutschland fürchtend im Kampf gegen Rechtsradikale- und -populisten dazu aufruft, sich Weizsäckers Rede einzutrichtern, hilft sie eben jenes Schlechte zu verbreiten, auf deren Grundlage Alice Weidel wurde, was sie ist: eine stolze Deutsche. Gegen Rechtsradikalismus hilft einzig, dem den falschen Verhältnissen entspringenden Gemeinschaftsbedürfnis entgegenzuarbeiten. Ernst betrieben würde solche Arbeit aber auch den grünen und roten Deutschen ihren kollektiven Narzissmus madig machen.