Eine Stunde in der Welt der Blinden

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Wie ergeht es Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung im Alltag? Im Dialoghaus in der Hamburger Speicherstadt habe ich erlebt, wie es ist, wenn alles dunkel ist.

Bild: Diego Grandi

Hamburg. Ich komme in einen dunklen Raum. Dunkel? Nein, er ist pechschwarz – ich sehe nichts. Zuvor bekam ich im Foyer von einer mir fremden Frau eine Art Blindenstock in die Hand gedrückt. „Die Stöcke sind eure Augen für die nächste Stunde“, sagte sie mir und den anderen aus meiner Gruppe, die ich nicht kenne. Die Frau heißt Pia und ist bereits seit ihrer Geburt blind. Für sie ist der Weg durch die Dunkelheit nichts Neues. Ich hingegen kenne das Gefühl nicht, nichts zu sehen. Ich bin aufgeregt.

Ein ungutes Gefühl durchstreift mich. Was wird auf mich zukommen? Werde ich mich in der Dunkelheit zurechtfinden? Ich lasse mir keine Wahl. Ich muss da jetzt durch, auch wenn ich ein wenig beunruhigt bin, irgendwo gegenzulaufen. Viel länger habe ich gar nicht, um darüber nachzudenken, was passieren könnte, denn es geht auch schon los – ab durch die Dunkelheit in „Dialog im Dunkeln“.

 

Über Dialog im Dunkeln

 

„Dialog im Dunkeln“ ist eine Einrichtung in der Hamburger Speicherstadt. Im Jahr 2000 gegründet, kommen jährlich mehr als 100.000 Besucher:innen vorbei. Den Mitarbeitenden geht es um Aufklärung und mehr Inklusion, denn rund 60 Prozent der Mitarbeitenden sind beeinträchtigt. Das betrifft jedoch nicht nur das Sehvermögen, sondern bei einigen das Gehör, denn das Dialoghaus bietet zusätzlich den „Dialog im Stillen“ an.

 

Die dunklen Kulissen

 

Ich jedoch interessiere mich an diesem Vormittag nur für die Dunkelheit. Beim Betreten des dunklen Raums merke ich, wie das Licht langsam immer schwächer wird. Es dauert nicht lange, schon sieht man seine Hand vor den eigenen Augen nicht mehr. „Willkommen in der Welt der Blinden“, höre ich Pia sagen, die uns durch die Gänge führt.

Zunächst fühlt sich der Boden sehr uneben an und es fällt mir schwer mich zurechtzufinden – trotz Blindenstock. Es wird kühler und bei jedem Schritt knirscht es unter meinen Füßen. Pia erklärt uns, dass wir uns gerne mit unseren Händen durch den Raum tasten können. Vermutlich über Lautsprecher höre ich Vögel zwitschern und Wasser rauschen. Mit der rechten Hand klammere ich mich an meinem Stock fest und mit der linken taste ich mich an der Wand entlang. Ich fühle etwas Bekanntes, komme aber nicht darauf, was es sein könnte. Dann höre ich, wie jemand aus meiner Gruppe sagt: „Das fühlt sich an wie Baumrinde“. Ein anderer sagt: „Wir sind in einem Park“. Richtig, jetzt merke ich es auch. Viel länger habe ich aber gar nicht, um über das Aussehen des Raums nachzudenken, denn Pia führt uns bereits weiter. Immer noch eher schlurfend als wirklich gehend folge ich ihr und der Gruppe in den nächsten Raum. Dabei handelt es sich um eine Wohnküche mit Tisch, Stühlen einer Küchenzeile und einer Art Schrank. „Wie schaffen es blinde Menschen, sich in einer Küche zurechtzufinden? Heiße Herdplatten, scharfe Messer - Ist es einfach Übungssache oder besteht immer ein Restrisiko?“, frage ich mich und behalte mir die Frage für später im Kopf.

Im nächsten Raum ist es laut. Verkehrsgeräusche und Stimmenwirrwarr dominieren die Geräuschkulisse. Ganz klar, wir befinden uns in einer nachgebauten Großstadt. Unsere Aufgabe – eine Straße überqueren. Dank des Stocks merke ich, wann der Bürgersteig aufhört und die Straße anfängt. Da ich weiß, dass mich in der Ausstellung keine Autos, Räder oder sonstige Verkehrsmittel umfahren können, denke ich nicht groß nach und will sofort losgehen, als mich ein lautes Hupen plötzlich erschreckt und ich zum Stehen komme. So echt hätte ich den „Dialog im Dunkeln“ nun nicht erwartet. Schon merke ich, dass ich mich erneut mit meiner Hand an der nächsten Wand wiederfinde. Das Hupen hat mich völlig aus dem Konzept gebracht. Wie ergeht es sehbeeinträchtigten Personen nur im Alltag damit? Ich werde wieder unsicherer, doch ein Zurück gibt es schon lange nicht mehr. Aber wie weit sind wir eigentlich mittlerweile? Ich habe das Zeitgefühl bereits verloren.

 

Die letzte Station

 

Jetzt geleitet Pia uns in den nächsten und zu meiner Überraschung und irgendwie auch Erleichterung in den letzten Raum. Es handelt sich um die Dunkelbar. Ich taste mich langsam nach vorne und spüre einen Hocker. „Endlich sicher sitzen“, denke ich mir. Ich bestelle mir eine Cola. Hätte ich sie auch als Cola herausgeschmeckt, wenn ich nicht gewusst hätte, um welches Getränk es sich handelt?

Während alle Besucher:innen meiner Gruppe ihre Snacks essen und Getränke trinken, bietet sich die Zeit, Pia einige Fragen zu stellen. Ich komme auf meinen vorherigen Gedanken zurück und frage sie, wie sie in einer Küche zurechtkommt. „Das ist für mich kaum ein Problem, ich sehe schließlich seit meiner Geburt nichts. Wenn ich in eine neue Küche komme, muss ich mich allerdings erst einmal zurechtfinden und mehr aufpassen, als bei mir zu Hause“, sagt sie.

Schließlich führt uns Pia wieder langsam nach draußen. Zuerst jedoch in einen Vorraum, in dem das Licht sehr gedimmt ist. Trotzdem tut es mir in den Augen weh. Kein Wunder, wenn man die letzte Stunde in kompletter Dunkelheit verbracht hat.

Weitere Informationen über da Dialoghaus und dessen Angebote gibt es unter dialog-in-hamburg.de

Foto: AdobeStock