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"Wir müssen reden"

Leserbrief von Andreas Rico Schweter

Leserbrief zu unserem Artikel „Erneute Demonstrationen“ vom 15. Januar 2022.
Vielen Dank für Ihren sachlichen und wertungsfreien Artikel! Die Schilderung, dass ich mich „im Anschluss der Kundgebung allein auf den Weg durch die Menge zu Bürgermeister Schwenke“ aufmachte, wie in Ihrem Artikel dargestellt, ist nicht ganz richtig.
Von 17 Uhr an war ich ein regulärer Teilnehmer der angemeldeten Gegendemonstration zu den um 18 Uhr stattfindenden Montagsspaziergang und begleitete diese bis zum Rathaus. Dabei trug ich ein Leuchtschild mit meiner Botschaft: „Wir müssen reden!“ Ich hatte keinerlei Absicht, auf der Kundgebung das Wort zu ergreifen; vielmehr musste ich die Flucht nach vorn antreten, um mich vor einer Bedrängnis zu retten:
Als ich mich auf der Kundgebung befand, kam zum Ende hin ein junger Schildträger, der an mir vorbeiging und in die Menge rief: „Hier ist der Chef der Worpsweder Freiheitsboten: Macht Platz!“ Augenblicklich rückten alle umstehenden Menschen von mir ab und ein Kreis entstand, in dessen Mitte ich mich allein befand. Dann wurde sogleich versucht, mich einzukesseln: Plötzlich traten von drei Seiten Banner und Schildträger um mich herum. Ich empfand diese Situation als bedrohlich, und ich trat die Flucht nach vorn an, bevor der Kessel geschlossen werden konnte. Dabei kassierte ich einen kräftigen Rempler, als ich zwischen zwei Bannerträger durchschritt. Sofort setzten meine Peiniger mir nach, und ich konnte mich dieser Situation nur erwehren, indem ich die Flucht nach vorn antrat und mich in die erste Reihe, direkt vor das Podium stellte. Zwei Bannerträger standen dann plötzlich zwischen mir und der Rednerin, die nicht begriff, was da gerade auf ihrer Veranstaltung geschah, merkten aber, dass sie ihr „Spielchen“ nicht weiter fortführen konnten. Erst als mich die Versammlungsleiterin und Rednerin Frau Hanstein-Moldenhauer indirekt ansprach, ergriff ich das Wort und brachte meine Botschaft „Wir müssen reden!“ direkt ein mit der Bitte, zu einem Runden Tisch einzuladen . Als ich wahrnahm, dass es mir auch an diesem Platz zu bedrohlich wurde, die Rufe „Maske auf!“ u.Ä. wurden immer aggressiver, und ich merkte, dass sich da etwas um mich herum zusammenbraute, da trat ich aus der Menge und einen Schritt auf Bürgermeister Schwenke zu. Ich bat ihn um einen Brückenschlag und dass wir beide über unsere Schatten springen sollten. Doch seine finale Antwort war: „Ne Ne Ne!“.
Die Veranstaltung wurde von der Worpsweder Initiative "Erinnern - für die Zukunft" initiiert, die in der Vergangenheit Gedenkfeiern für die Opfer des Nationalsozialismus und Veranstaltungen organisierten. Dass bei ihrer Demonstration mir etwas widerfuhr, dass an eben diese dunklen Zeiten erinnern lässt, das war mehr als ambivalent. "Erinnern" allein reicht eben nicht aus, um Vergangenheit zu transformieren: Dazu sind empathische Prozesse notwendig, die tief systemisch eingreifen. Es ist Anno Corona 03 und die Menschlichkeit verkriecht sich mehr und mehr hinter den Masken. Jeden Montag gehen wir deutschlandweit mit vielen hunderttausend Menschen spazieren, am 17. Januar gab es mehr als 2.000 Spaziergänge. Wir sind keine Rechten, sondern Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft - aus allen Berufsgruppen und "Schichten".
Dennoch wird uns immer wieder unser Licht verdunkelt. Doch die ständige Wiederholung von Totschlagargumenten, wie etwa "Ihr seid Rechte", macht sie nicht wahrer und blockiert den längst überfälligen Dialog. Montags finden sich Menschen zusammen, die mit der Kraft der Montagsspaziergängen von 1989 unsere Welt wieder lebenswert machen möchten, an den Verlust unserer verbrieften Grundrechte gemahnen und die Beendigung aller Corona-Maßnahmen fordern. Menschen, die ihre Ängste vor teilweise einschüchternd auftretenden Polizeikräften zurückstellen, die "Ordnungswidrigkeiten" höher einstufen als das Grundrecht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Mitbürgern, die sich das Anpöbeln von Gegendemonstranten und Linksextremisten gefallen lassen müssen oder auch - wie in Worpswede bereits geschehen - körperlicher Gewalt ausgesetzt sind: Welche innere Not mögen wohl Menschen im Corona-Zeitalter erleiden, dass sie trotz aller Widrigkeiten montags auf die Straße gehen und ihre persönliche Angst zurückstellen? Das Dilemma der Corona-Zeit ist die fehlende Bereitschaft, sich - über alle Gräben und Meinungen hinweg - zusammenzusetzen und zu reden. Wie soll das im Großen auf Bundesebene funktionieren, wenn es uns hier, auf lokaler Ebene nicht gelingt, einen Diskurs aufzubauen? Was bleibt wohl nach Corona, wenn uns das nicht gelingt?
 
Andreas Rico Schweter
Worpswede
 
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