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Patrick Viol

Zeit für mehr Sachlichkeit - Eine Kritik der Verselbstständigung der Angstpolitik

Während die Immunisierung der Bevölkerung auf sich warten lässt, ist der Staat mittlerweile immun - gegen Kritik an seinen Maßnahmen. So könnte ein Ergebnis der Analyse der Bundestagsdebatte zur Bundesnotbremse lauten.
 
Mülltrennung im Kopf ist in der Pandemie keine schlechte Strategie, um nicht emotional abzustumpfen und gleichgültig zu werden. Foto: adobestock/tadamichi

Mülltrennung im Kopf ist in der Pandemie keine schlechte Strategie, um nicht emotional abzustumpfen und gleichgültig zu werden. Foto: adobestock/tadamichi

In der Bundestagsdebatte über die Änderung des Infektionsschutzgesetzes am Mittwoch, 21. April,  ging es heiß her. Viele Medien berichteten von Schlagabtauschen zwischen Vertreter:innen der Regierungsparteien und jenen der Opposition. Und in der Tat: Es wurde laut, hitzig und emotional. Man könnte den Verlauf der Debatte als Ausdruck einer angespannten, „ernsten Lage“ begreifen. Die existiert. Doch diese Betrachtung der Debatte übersähe das spezifische Problem der aktuellen Pandemiepolitik, das am Mittwoch im Streit zwischen Regierungspartei- und Oppositionsvertreter:innen offen zutage trat und für die emotionale Aufladung der Debatte verantwortlich war.
Denn es hat sich gezeigt, dass sich ein zentraler Teil der Regierungsstrategie, nämlich der Pandemie mit Angstpolitik zu begegnen, wie es im Strategiepapier vom 28. April 2020 festgelegt ist, sich verselbstständigt und eine irrationale Eigendynamik entwickelt hat.
 
Angst und die Illusion der Alternativlosigkeit
 
Diese Entwicklung erklärt der Senior-Professor für Soziologie an der Europa Universität Flensburg Prof. Dr. Maurizio Bach in seinem Essay „Angst und Politik in der Pandemie“ vom 28. März. Habe die „Erzeugung und Aufrechterhaltung eines relativ hohen gesellschaftlichen Gefahren- und Angstniveaus“ als Steuerungselement am Anfang der Pandemie einen rationalen Grund gehabt, weil es die Menschen schneller an eine neue und bedrohliche Situation anpassen lasse, sei es nun „überfällig, über Alternativen zum ‚Regieren durch Angst‘ nachzudenken. Denn Angst ist ein zweischneidiges Schwert: Sie kann sich leicht eigendynamisch verstärken und ungewollt verselbstständigen. In der Sphäre der Politik wird die Angst zudem gerne als Ressource für Machtspiele aufgerufen“, so Bachs zentrale These. Eines dieser Machtspiele sei die Erzeugung der Illusion, zum Handeln des Staates gäbe es keine Alternativen. Nach Bach werde diese scheinbare Alternativlosigkeit wie folgt erzeugt: Indem der Staat den abstrakten Schutz von Leben und Gesundheit zur „Leitidee der Pandemiepolitik“ gemacht habe, habe er sich eine Entscheidungslast in einer letztlich nur ethisch zu beantwortenden Frage aufgebürdet, „die ihn angesichts der funktionalen Komplexität und sich vielfach kreuzender Wertbeziehungen spätmoderner Gesellschaften überfordern müsse. „Soll dann politische Führungskraft bewiesen werden, muss im Zweifelsfalle die öffentliche Debatte unterbrochen und die Angst vor dem Tod als Hintergrundsmelodie angestimmt werden.“ So trete an die Stelle von Meinungsaustausch, Interessenvermittlung und Kompromissfindung das Postulat der fundamentalen Alternativlosigkeit, was die von Regierungsseite getroffenen Entscheidungen betrifft, sowie „massiver Konformitätsdruck“, erklärt Bach weiter.
 
Immunisierung gegen Kritik
 
Was Bach theoretisch ausgeführt hat, wurde am Mittwoch in der Bundestagsdebatte durch den Beitrag von Ralph Brinkhaus (CDU) - entgegen seiner Kompromissfindungsbeteuerungen - bestätigt.
In seiner Verteidigung des geänderten und von allen Oppositionsparteien abgelehnten Infektionsschutzgesetzes hat er es als ein „Gesetz fürs Leben“ bezeichnet. Entsprechend bat Brinkhaus die Abgeordneten: „Stimmen sie diesem Gesetz zu! Stimmen sie für das Leben! (...) Schützen Sie Leben!“ Damit hatte er kurzerhand die aus sachlichen Gründen zustimmungsunwilligen Kritiker:innen des Gesetzes - sprich alle Abgeordneten von AfD, Grüne, FDP und Linke - als Kollaborateur:innen des Todes abgestempelt. Womit Brinkhaus deren Kritik beispielsweise daran, dass die bloßen Inzidenzzahlen nicht die wirkliche Krankheitslast der Bevölkerung spiegelten oder die Ausgangssperre ungeeignet und vor dem Hintergrund nicht ausgeschöpfter Möglichkeiten verfassungsmäßig unzulässig und die Testverpflichtung für Unternehmen zu halbherzig sei, im selben Schritt als lebensbedrohliche Einwände denunziert. Wer gegen die Änderung des Infektionsschutzgesetzes ist, sei gegen das Leben, so Brinkhaus Argumentation.
Dass die Opposition teilweise weitergehende und effizientere Maßnahmen vorschlug, wie z. B. tägliche Testpflicht in Unternehmen, ihre Kritik also nicht „gegen das Leben“ gerichtet ist, Brinkhaus aber zum Beispiel Jan Korte (Linke) vorwarf, er würde mit seiner Verweigerung, dem Gesetz zuzustimmen, die Menschen „bestrafen“, erweist Brinkhaus Argumentation im Sinne Bachs als eine Immunisierungsstrategie des Staates gegen Kritik.
 
Angst produziert Abwehr
 
So zeigte sich am Mittwoch: Wollte die Regierung anfänglich mit der expliziten Kommunikation der tatsächlich lebensbedrohenden Gefahr für Leib und Leben und dem Wecken der „Urangst“ der Menschen, zu ersticken, eine „Schockwirkung“ erzielen, um ihr Verhalten coronakonform zu ändern, wie es im genannten Strategiepapier heißt, ziehen Regierungslinienvertreter nun die Angst vor dem Tod heran, um noch die fragwürdigste ihrer Maßnahmen gegen begründete Kritik abzuschirmen. Damit soll nicht zuletzt auch die Bevölkerung auf Linie gebracht werden. Das mag bei einigen Menschen funktionieren, bei allem Leid, was man ihnen dadurch psychisch auch antut. Aber diese verselbstständigte, irrational gewordene Angststrategie erzeugt - das ist ein psychischer Grundmechanismus - zugleich bei Menschen eine Abwehrhaltung. Die führt aktuell dazu, dass die Menschen dem Staat auch da die Gefolgschaft verweigern, wo es epidemiologisch unvernünftig ist, das zu tun, oder sie verschieben die Angst, z. B. auf die Impfung.
Daher ist es Zeit für mehr Sachlichkeit. Das hieße zum einen, dass der Staat ablässt von seiner Angstpolitik, zielführende Schutzmaßnahmen ohne sachlich unnötige Einschränkungen ergreift und erkennt, das der abstrakte "Schutz des Lebens und der Gesundheit" eine die Befolgung der einfachsten Coronargeln verhindernde Abwehr erzeugt. Weil von diesem von jeder qualitativen Bestimmung des Lebens absehenden Schutz selbst eine Bedrohlichkeit für das konkrete, individuierte Leben ausgeht. Denn auf dieser Grundlage könnte man - zugespitzt formuliert - auch alle Menschen in Gefängnis stecken. Denn die größte Gefahr für „das Leben“ geht von freien Menschen aus. Zum anderen hieße mehr Sachlichkeit für jede:n von uns, sich von der angedrehten Angstmache nicht gleichgültig machen und weiterhin unseren Mitmenschen die größte Rücksicht angedeihen zu lassen.
(aktualisierte Variante, 26. April)
 
 


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