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Patrick Viol

Kommentar: Eine schlechte Zukunftsinvestition

Auch wenn wieder alle wie gebannt auf die Inzidenzzahlen starren - es ist Zeit, dem Blick auf den Hospitalisierungswert die Priorität einzuräumen, kommentiert Patrick Viol.
Lockdownmaßnahmen und Inzidenzwerte stehen nicht mehr in einem sinnvoll begründetem Zusammenhang.

Lockdownmaßnahmen und Inzidenzwerte stehen nicht mehr in einem sinnvoll begründetem Zusammenhang.

Es ist eigentlich eine gute Nachricht, die ein Sprecher von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) der Bevölkerung kürzlich überbrachte: Künftig soll tagesaktuell erfasst werden, wie viele Coronapatient:innen im Krankenhaus aufgenommen werden. Zudem soll festgehalten werden, wie alt die Patient:innen sind und ob sie geimpft sind. Diesen Blick auf den „Hospitalisierungswert“ anstatt auf Inzidenzwerte hatten verschiedene Politiker:innen und Verbände wie der BDI zuvor gefordert. Das tat dieser zwar nur aus ökonomischen Gründen, aber durchaus zu Recht meines Erachtens. Denn hohe Inzidenzwerte sind aufgrund der geimpften Bevölkerung nicht gleichbedeutend mit einer hohen Auslastung des Gesundheitswesens, weshalb Lockdownmaßnahmen und Inzidenzwerte nicht mehr in einem sinnvoll begründetem Zusammenhang stehen. Daran ändert auch die Deltavariante nichts, da sie nicht zu einer Überlastung der Intensivstationen zu führen scheint. Aber sowohl Markus Söder als auch Spahns Sprecher versicherten: Es gibt keine Änderung der politischen Strategie. - Und dahin ist die gute Nachricht. Aber es sei sinnvoll, die Inzidenzwerte in Relation zu den Krankenhauszahlen zu setzen, so Söder, um vielleicht die Grenzwerte für Maßnahmen zu erhöhen. Mal gucken, was wir mit den Zahlen machen, heißt das.
Und dass sie nicht dazu dienen werden, das Leben in der Pandemie zu erleichtern, indem man mit ihnen jede einschränkende Maßnahme so lange wie nur möglich verhindert, belegt, dass bereits seit April ein Verfahren für die Ermittlung eines neuen Schwellenwertes für die Lage auf Intensivstationen vorliegt. Vorgelegt hat es die Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Für besser als die Inzidenzorientierung befunden hat es der Leiter des Divi-Intensivregisters Christian Karagiannidis und ignoriert hat es die Politik. Ebenso wie andere das Pandemieleben erleichternde Dinge auch. Luftfilter in Schulen zum Beispiel. Ein massenhafter Einbau findet in den Sommerferien nicht statt. Schon wieder nicht. Und nein, die mobilen Dinger sind kein guter Ersatz, sondern Geldverschwendung.
Dieser Zug: Es gäbe zwar Möglichkeiten, das zivile Leben in der Pandemie für alle zu erleichtern und Freiheiten so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, aber wir setzen sie nicht um, ist symptomatisch für die diesjährige Pandemiepolitik. Und wie alle Symptome verweist auch dieses auf ein tieferes, zu deutendes Problem. Es ist doch so: Wenn es Möglichkeiten gibt, die das Leben erleichtern könnten, diese aber von der Politik nicht verwirklicht werden und stattdessen Menschen privaten und von der Politik moralisch überhöhten Verzicht auf individuelle Freuden leisten sollen, dann besorgt die politische Strategie gegen Corona nebenher eine Disziplinierung der Menschen, die über die Bekämpfung des Virus hinausgeht. Und geschaffen wird mit diesem Gleichklang aus nicht notwendigem, sondern politökonomisch erzeugtem Dauermangel an Möglichkeiten eines besseren Lebens und kollektivistischer „Wir-schaffen-das-Moral“ ein neuer Sozialcharakter.
Hatte man vor Corona die Leute noch mit Spiel und Spaß, also mit individueller Übertretung der allgemeinen Norm auf gesellschaftliche Linie gebracht, so soll einem nun der Verzicht auf individuelle Lüste und intellektuelle Bedürfnisse um der Allgemeinheit willen selbst zur Lust werden. Damit einem das, was einen zu einem Individuum macht, nicht dabei in die Quere kommt, sich einem Zustand zu fügen, der nur deshalb existiert, weil man die vernünftigen und objektiven Möglichkeiten zu seiner Abschaffung politisch nicht ergreift. So lässt sich das politische Nichthandeln als eine Investition in die Zukunft begreifen. Weil man auf politischer Ebene ahnt, dass man auch künftigen Krisen, wie z. B. der des Klimas, politisch nur halbgar begegnen wird. überarbeitete Onlineversion, 22. Juli


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