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Michael Heinrich

Gastkommentar: Phrasen helfen nicht gegen Armut

In seinem Gastkommentar kritisiert Michael Heidemann, dass die inhaltliche Ausrichtung des "Welttags der Armen" die wesentliche Ursache der Armut verklärt. 
Arbeitskraftbehälter oder Mensch? Bild:Popowa, 1914, wiki/commons

Arbeitskraftbehälter oder Mensch? Bild:Popowa, 1914, wiki/commons

Im Jahr 2016 rief Papst Franziskus erstmals den „Welttag der Armen“ aus. Diesen Sonntag, 15. November, findet er erneut statt, denn am Problem hat sich seitdem erwartbar nichts geändert.
Unter dem biblischen Motto „Streck dem Armen deine Hand entgegen“ ruft der Papst dazu auf, „den Blick auf das Wesentliche zu konzentrieren und die Schranken der Gleichgültigkeit zu überwinden“. Dieser Appell mutet zunächst sympathisch an, denn in der Tat führt die Corona-Krise zu einer dramatischen Verschärfung der weltweiten Armut. Laut Angaben der Weltbank werden bis zu 150 Millionen Menschen zusätzlich in bitterste Armut stürzen. Es wäre dem Papst also zu danken, dass er hierauf aufmerksam machen will.
Die christliche Anklage der Armut geht jedoch immer auch mit ihrer Verklärung einher. Glück und Erlösung soll es allenfalls im Jenseits geben, im Diesseits wird den Gläubigen das einfache, bescheidene Leben anempfohlen. Keine Überraschung also, dass die päpstliche Botschaft zum diesjährigen Welttag der Armen die üblichen Phrasen gegen Luxus, Gier und Ausschweifung aneinanderreiht.
Eine Kritik der Armut, die es mit ihrer Abschaffung ernst meint, müsste sich mit ihren systematischen Entstehungsbedingungen beschäftigen. Der Gedanke, dass die Armut allein durch die Skrupellosigkeit der Reichen fortbestehe, verfehlt gerade das ‚Wesentliche‘, auf das Papst Franziskus angeblich die Blicke lenken will; auch wenn er immerhin den bürgerlich-liberalen Zynismus vermeidet, dass die Armut selbst verschuldet, also Resultat von Faulheit oder Dummheit sei.
Der Grund für die weltweit massenhafte Armut ist jedoch nicht im bösen Willen der „Reichen“ oder Mächtigen zu suchen, sondern in den Produktionsverhältnissen der Marktwirtschaft selbst. Die haben nämlich - egal ob nun sozial oder neoliberal organisiert ist - nicht die Bedürfnisbefriedigung der Menschen zum Ziel. Andernfalls würden nicht regelmäßig massenhaft Lebensmittel vernichtet, um die Preise zu stabilisieren. Ziel ist allein die Produktion von Mehrwert als Selbstzweck. Lebensmittel fallen nebenbei ab.
Deshalb führt auch der rasante technische Fortschritt eben nicht dazu, die Arbeitszeiten radikal zu verkürzen, sondern dazu, den Anteil der mehrwertschöpfenden Mehrarbeit zu steigern. Das heißt: zu Ausbeutung und Armut.
Zwar hat sich im Gefolge der rasanten Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit das Wohlstandsniveau im globalen Durchschnitt erheblich gesteigert. Doch Verelendung drückt sich nicht allein in absoluter Armut aus, sondern in der anwachsenden Diskrepanz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit eines unbeschwerten, angstfreien, ja sogar luxuriösen Lebens für alle. Die technisch längst mögliche restlose Abschaffung der Armut scheitert permanent am Festhalten der Menschheit an ihrer eigenen durch die Verhältnisse erzeugten Unfreiheit.
Die Verwirklichung der Freiheit implizierte die Abschaffung der blinden Produktion von Mehrwert, das heißt: die Änderung der Eigentums- und Produktionsverhältnisse. Doch zwecks kollektiver Verdrängung auch nur der Möglichkeit einer Welt ohne Armut versinkt das spätbürgerliche Bewusstsein in die vom Papst bemängelte Gleichgültigkeit oder begnügt sich fromm mit ein paar Cents an die Caritas.
Der Autor absolviert seinen Abschluss in Philosophie an der Universität Oldenburg. Zuletzt hat er einen Essay zur Gegenaufklärung in der Souveränitätslehre Joseph de Maistres in der Zeitschrift ­sans phrase veröffentlicht.


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