Seitenlogo
Patrick Viol

Erfolge und Katastrophen

Der ANZEIGER hat mit den regionalen Direktkandidat:innen der Bundestagswahl über ihre Einschätzung der Wahl gesprochen.

Das Internet scherzt über ein Selfie auf dem Annalena Baerkbock (Grüne), Robert Habeck (Grüne), Christian Linder (FDP) und Volker Wissing (FDP) zu sehen sind und das im Rahmen der Vorsondierungsgespräche entstanden ist: Auf verschiedenen Social-Media-Kanälen wird das Bild mit fiktiven Bandnamen versehen. Die Namen reichen von The Kanzlermacher zu Wir wären gern Helden. Was die Namen ausdrücken sollen, ist klar: Hier sucht sich die Band den Frontmann aus. Bevor der aber auserkoren wird, müssen sich FDP und Grüne erst über Instrumentierung, Takt, Tempo und vor allem über das Genre einigen.
Auf die Gespräche ihrer Parteispitzen blicken auch Lena Gumnior, Direktkandidatin der Grünen im Wahlkreis Osterholz Verden, und Steven Hermeling, Direktkandidat der FDP im Wahlkreis Stade Rotenburg. Während ihre Spitzen hinter verschlossenen Türen vertrauliche Gespräche führen, erzählen Gumnior und Hermeling, wie sie den Wahlausgang einschätzen und was sie sich von den Gesprächen erhoffen.
 
Die Union wurde abgewählt
 
Beide haben es zwar nicht in den Bundestag geschafft, seien aber glücklich mit dem Ausgang der Wahl. Gumnior hat das beste Erststimmenergnis der Grünen überhaupt eingefahren und das gebe natürlich „Rückenwind“. Zufrieden sei sie auch mit dem Wahlkampf: Es seien grüne Themen in der Bevölkerung des Landkreises stärker verankert worden. Ebenso Hermeling. Er sei sehr zufrieden mit dem Ergebnis seiner Partei. Mit dem „realitätsnahen Programm“ habe man viele junge Menschen und einen einen „historischen Meilenstein“ erreicht.
Gumnior und Hermerling schätzen aber nicht nur das Ergebnis ihrer Parteien ähnlich ein. Sie deuten auch das Ergebnis der CDU in gleicher Weise. Beide sehen in ihr die Wahlverliererin; dass sie „abgewählt“ worden sei. Hermeling betont zwar, dass die FDP mehr Überschneidungen mit der Union habe, sagt aber auch, dass eine Jamaika-Koalition zu bilden den Wähler:innen gegenüber nicht fair sei. Und auch für Gumnior - ebenso wie für 80 Prozent aller Grünenwähler:innen - komme keine Regierung mit der Union in Frage.
 
Harte Verhandlungen
 
Und so positiv Gumnior und Hermerling auf den Wahlausgang blicken, so optimistisch seien sie im Hinblick auf die Gespräche ihrer Spitzenpolitiker:innen. Beide hofften zwar, dass die jeweils eigene Partei so viele Punkte wie möglich aus ihrem Programm in eine neue Regierung einbringen können wird. Sie seien aber zuversichtlich, dass mit „Kompromissbereitschaft“, so Hermeling“ und „harten Verhandlungen“, wie Gumnior sagt, eine „Einigung“ gefunden werde.
Denn in der Tat haben die Parteien zwar ähnliche Prioritäten wie Klimaschutz, Digitalisierung und bessere Bildung. Sie unterscheiden sich aber stark in deren politischen Umsetzung. Während die Grünen auf mehr Regulierung und Unterstützung durch den Staat z. B. durch höhrere Steuern setzen, setzt die FDP sowohl beim Klimaschutz als auch bei der Sozialpolitik auf mehr „marktwirtschaftliche Voraussetzungen“ und explizit nicht auf Steuerhöhungen. An dieser Stelle könnte es kritisch werden. Gumnior sagt, es brauche eine konsequente „1,5 Grad-Politik“ mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2030. Hermeling hingegen sagt, es sei schon „utopisch“, das Ziel bis 2035 erreichen zu wollen.
Im Hinblick auf die Vermittlung dieser Unterschiede setzt Gumnior auf die SPD - vorausgesetz es bleibt dabei, dass das grünliberale Ensemble keine jamaikanische Reggaemusik spielen möchte.
 
Zukunftsfähigkeit bei Ampel
 
Gewonnen hat die Wahl die SPD. Im Wahlkreis Stade Rotenburg ist für sie als Direktkandidat Kai Koeser angetreten. Er hat sich - traurigerweise, wie er sagt - zwar nicht gegen Oliver Grundmann (CDU) durchsetzen können, sei aber überaus glücklich über den Wahlerfolg der Sozialdemokratie. Ebenso freut sich Michael Harjes, der Direktkandidat für den Landkreis Osterholz Verden, über den Wahlsieg der SPD. Eingefahren habe man das gute Gesamtergebnis dadurch, wie die beiden Sozialdemokraten erklären, dass die SPD „auf die richtigen Themen gesetzt hat, auf Themen, die die Menschen im täglichen Leben bewegen.“
Im Hinblick auf die Regierungsbildung habe Koeser im Vorfeld der Wahl zwar gehofft, dass es für Rot-Grün reicht. Aber auch in einer Ampel, so Koeser und Harjes, werde sich die SPD mit ihrem Schwerpunkt auf soziale Themen mit einem wieder stärker sozialdemokratisch eigenständigen Profil durchsetzen können. Ebenso denken beide, dass das „Gemeinsame“ der drei Parteien über Sachthemen herausgearbeitet werden könne, sodass am Ende eine „Zukunftsfähigkeit“ entsteht, deren Qualität die einer möglichen Jamaika-Koalition übertreffe, wie Koeser sagt. Nicht zuletzt deshalb, weil die Ampel-Koalition mehr für den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ erreichen könne, weil jede Partei dort ihre Stärken entfalten könne. Dass dies auch die möglichen Koalitionspartner FDP und Grüne so sehen - da ist Koeser äußerst „zuversichtlich“.
 
Ein katastrophales Ergebnis
 
Die Verlierer der Bundestagswahl sind die Union und die Linkspartei. Als Direktkandidaten der beiden Partei angetreten sind Oliver Grundmann (CDU), im Wahlkreis Stade Rotenburg, und Mizgin Ciftci (Die Linke), der für den Wahlkreis Osterholtz Verden kandidierte.
Oliver Grundmann hat zwar das Direktmandat gewonnen, wirklich freuen habe er sich am Wahlabend aber nicht können. Es war mehr „Erleichterung als Freude“ in Anbetracht des „katastrophalen Ergebnisses“ der CDU. Dankbar sei er aber für den Vertrauensbeweis der Wähler:innen.
Ob das Wahlergebnis ausdrückt, dass sich die Bürger:innen eine Ampel wünschen, könne Grundmann nicht sagen. Aber dass es bedeute, dass man den falschen Kandidaten aufgestellt habe, sei klar. Mit Söder wäre das Wahlergebnis anders ausgefallen.
Und auch wenn er sich persönlich eine Jamaika-Koalition gewünscht habe, so sehe er jetzt den „Verhandlungsauftrag“ bei der SPD. Es wäre „vermessen“, wenn die CDU in die Verhandlungen grätschte und den anderen Parteien „Wahlgeschenke“ machte, nur um „an der Macht“ zu bleiben. Gutes Regieren benötige ein Inhalts- und kein reines Zweckbündnis. Ersteres könne nun, wenn FDP und Grüne es wollen und Olaf Scholz nicht doch noch durch die Cum-EX-Ermittlungen in Schwierigkeiten gerate, bei der Ampel liegen. Die Union müsse sich hingegen personell und inhaltlich erneuern. Mit Ralf Brinkhaus habe man bereits einen starken Fraktionsvorsitzenden gewählt. Alles weitere werde man beim Bundesparteitag sehen.
 
Partei ohne Vertrauen
 
Mizgin Ciftci ist nicht wirklich guter Stimmung und mache sich Sorgen um seine Partei. Aber der „Kampf“ gehe weiter. Der liege nun erst einmal darin, gründlich zu analysieren, warum die Partei die Menschen nicht überzeugen kann, sie zu wählen, obwohl ihre Forderungen wie z. B. nach sozialer Gerechtigkeit bei allen Bevölkerungsschichten Zuspruch findet. Auch müssten Gründe für den Vertrauensverlust gefunden werden. Immerhin hat man 5 Prozentpunkte verloren.
Seines Erachtens zählt zu den Ursachen des desaströsen Wahlergebnisses die Zerstrittenheit der Linken, die vor allem Sarah Wagenkneckt öffentlich befeuert, dass es sich um einen „polarisierten Kanzlerwahlkampf“ gehandelt habe und dass Olaf Scholz Wahlkampf mit linken Themen wie z. B. Mindestlohn und Wohnraum geführt habe. Aber auch „hausgemachte Fehler“ weiß Ciftci anzugeben. Da sei zum einen der bislang nicht geklärte Richtungsstreit, ob man eine sozial-ökologische Partei sein will oder eine, die sich ausschließlich mit der sozialen Frage beschäftige. Zum anderern habe man das außenpolitische Programm schlecht kommuniziert. Dass es der Linken nicht um einen bloßen Austritt aus der NATO, sondern um ein „kollektives Sicherheitsbündnis unter Einschluss Russlands“ gehe, sei bei den Wähler:innen überhaupt nicht durchgedrungen.
Das seien Fehler, die nun aufzuarbeiten seien, damit sich die Linke erneuern könne. Und wenn es nach Ciftci gehe, dann im Sinne einer starken sozial-ökologischen Partei, sie sich für die Belange der Arbeitnehmer:innen, der Armen, der Entrechteten, aber auch der Rentner:innen und Studierenden einsetzt. Denn von einer Ampel-Koalition mit Christian Lindner hätten prekär lebende Menschen nicht viel zu erwarten. Erst recht keine soziale Gerechtigkeit, so Ciftci.


UNTERNEHMEN DER REGION