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Patrick Viol

Christiane Stöckler im Interview über die Risikogruppe Menschen mit Behinderungen

Menschen mit Behinderungen gehören zur Risikogruppe in der Corona-Krise - bekamen aber erst spät Aufmerksamkeit. Im Interview spricht Christiane Stöckler über Sorgen, die ihr die Pandemie bereitet.
Christian Stöckler ist Teilhabeberaterin in Lilienthal.  Foto: eb

Christian Stöckler ist Teilhabeberaterin in Lilienthal. Foto: eb

Bild: Patrick Viol

Von der Corona-Krise sind auch Menschen mit Behinderungen besonders betroffen. Auch sie sind eine Risikogruppe, bekamen aber erst spät Aufmerksamtkeit. Der ANZEIGER sprach mit Christiane Stöckler von der Teilhabeberatung in Lilienthal über die Sorgen, die die Epidemie Menschen mit Behinderungen bereitet. Unsere Interviewpartnerin ist querschnittsgelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen.
 
ANZEIGER: Frau Stöckler, wie sieht derzeit ihr Alltag aus?
 
Stöckler: Ich bin auch zuhause. Ich habe 24 Stunden Assistenz. Ich habe drei verschiedene Assistentinnen und die sind noch alle gesund und kommen noch jeden Tag. Und meinen Beratungsjob kann ich sehr gut telefonisch im Homeoffice ausüben. So sieht es im Moment aus.
 
ANZEIGER: Sprechen sie mit ihren Assistentinnen darüber, ob sie die Kontaktsperre einhalten?
 
 
Stöckler: Ja, wir reden da sehr viel drüber. Das Ding ist ja, dass ich darauf angewiesen bin, dass die sich an die Maßnahmen halten. Ich hab ja keinen Einfluss darauf, was die in ihrer Freizeit machen und eigentlich ist das ja auch egal, aber es wäre ein Problem, wenn ich wüsste, meine Assistentinnen sind ständig unter vielen Leuten. Aber bei meinen ist das nicht so. Die halten sich an die Kontaktsperre.
 
ANZEIGER: Da muss man sich schon vertrauen können, in dieser Situation.
 
Stöckler: Ja, man muss sich vertrauen, aber manche Sachen kann man gar nicht vermeiden. Wenn jemand mit der Bahn zu mir kommen muss, weil es gar nicht anders geht, kann man da ja nichts gegen machen. Aber ich bin echt sehr froh, wenn ich merke, das meine Assistentinnen gut mit ihrer Verantwortung umgehen. Sie waschen sich viel die Hände und sind sehr rücksichtsvoll. Das ist dann ein gutes Gefühl. Und es wäre schlimm, wenn es anders wäre.
 
ANZEIGER: Welches Risiko birgt das Coronavirus für Menschen, die wie Sie auf einen Rollstuhl angewiesen sind?
 
Stöckler: Für mich selber, also wenn man querschnittsgelähmt ist im Halswirbelbereich, dann hat mein ein viel geringeres Lungenvolumen, weil auch die Atmung eingeschränkt ist. So kann man zum Beispiel nicht abhusten. Dann kann schon eine Erkältung richtig blöd werden und erst recht eine Lungenentzündung. Genauso ist es auch bei Menschen mit einer Muskelerkrankung oder bei Krebspatienten, die Immunsupressiva nehmen müssen. Da ist das ganze Immunsystem nicht so gut.
 
ANZEIGER: Das heißt, die Gefahr einer Lungenerkrankung ist für sie ingesamt größer?
 
Stöckler: Ja, wenn die Viren in die Bronchien kommen - also ich bin jetzt auch keine Medizinern - dann kann der Schleim mit den Viren nicht rausgehustet werden und setzt sich dann erst recht fest. Und so ist die Atmung auch schnell am Ende. Gesund geht es. Aber wenn sie nur ein bisschen eingeschränkt ist, ist ganz schnell Ende der Fahnenstange.
 
ANZEIGER: Haben Sie das Gefühl, dass die Bevölkerung ein Bewusstsein dafür hat, dass Corona nicht nur Alte und Vorerkrankte, sondern auch für Menschen mit Behinderung gefährlich ist, die nicht alt und vorerkrankt sind?
 
Stöckler: Ich habe das Gefühl, dass das in letzter Zeit sehr präsent geworden ist. Ich würde sagen, innerhalb der letzten ein, zwei Wochen ist es schon rüber gekommen, dass es wichtig ist, das Virus nicht weiterzutragen und das jeder die Verantwortung hat, diese Riskogruppe nicht anzustecken.
 
ANZEIGER: Wenn Sie sagen, dieses Bewusstsein ist erst in den letzten zwei Wochen aufgekommen, denken Sie dann, dass davor Menschen mit Behinderung als Risikogruppe in den Medien unterrepräsentiert waren?
 
Stöckler: Vielleicht schon, aber andrerseits finde ich es nun umso stärker. Es ist jetzt so, dass sehr viele junge gesunde Menschen ihre „ganze Existenz auf Spiel setzen“ - sage ich jetzt mal - nur, um diese Risikogruppe zu schützen. Und das ist schon auch ein Geschenk.
 
ANZEIGER: Also Sie nehmen in der Bevölkerung schon eine Sensibilität wahr?
 
Stöckler: Ja, auf jeden Fall.
 
ANZEIGER: Aber ärgert sie jetzt im Nachhinein, dass das Behinderten-Werkstätten nicht zeitgleich mit Kitas und Schulen geschlossen wurden?
 
Stöckler: Ja, das ist die große Frage, warum das so gemacht wurde. Ob da einfach das Bewusstsein nicht da war, dass es dort auch notwendig gewesen wäre. Andrerseits haben auch viele Firmen sehr spät Maßnahmen ergriffen.
 
ANZEIGER: Glauben sie, dass Menschen mit Behinderungen als Riskogruppe von der Bundesregierung vergessen wurden, weil auch viele Verbände, die Einrichtungen betreiben, erst gar nicht mit unter den finanziellen Schutzschirm fielen?
 
Stöckler: Das auf jeden Fall. Bis dann der Herr Spahn mal etwas gesagt hat. Es ging halt viel um die - sage ich jetzt mal - „normale“ Bevölkerung und um die, die schon im Krankenhaus sind, oder um Alte und Kranke. Aber behinderte Menschen, die pflegedürftig, aber nicht in einem Pflegeheim oder einem Krankenhaus, sondern einfach zu Hause gepflegt werden - das ist wirklich untergegangen.
Das wurde dann auch in den Behindertenforen Thema. Also solche Fragen, wie: Was ist, wenn meine Assistenten krank werden, wer versorgt mich dann? Oder was passiert, wenn ich als behinderter Mensch, der auf andere Menschen und auch auf Kontakt angewiesen ist, in Quarantäne muss? Oder, wenn die Assistenten in Quarantäne sind und keiner mehr zu mir kommen kann? Was mach ich dann? Ich brauche ja Hilfe. Und ich weiß von vielen, die dann aus Sorge beim Gesundheitsamt angerufen haben und dort erfahren haben, dass es vielen gar nicht bewusst war, dass es so etwas wie Assistenz oder Pflege zu Hause überhaupt gibt und wie man dann in den fraglichen Fällen verfährt. Da gab es dann keine Lösungen.
 
ANZEIGER: Da wurde dann nicht zu Ende gedacht, welche Risikogruppen es überhaupt gibt und welche wie versorgt gehören.
 
Stöckler: Genau.
 
ANZEIGER: Sie sprachen ja bereits einige Sorgen an. Sie betreiben ja auch die Teilhabeberatung in Lilienthal. Die führen Sie ja nun telefonisch weiter. Mit welchen Sorgen wenden sich Menschen mit Behinderungen derzeit an Sie?
 
Stöckler: Es sind erstaunlich wenige. Es sind kaum noch Leute, die uns kontaktieren. So wollte ich an dieser Stelle auch noch einmal betonen, dass wir nach wie vor für die Leute telefonisch und auch per Mail da sind. Auch nur zum Austausch über Fragen, wie man mit der Situation jetzt umgeht. Für die Sorgen der Menschen mit Behinderung gibt es natürlich jetzt keine Patentlösung, aber manchmal hilft es ja bereits, darüber zu sprechen.
 
ANZEIGER: Mittlerweile gibt es für die Krankenhäuser und leitendes medizinisches Personal Entscheidungsempfehlungen für den Fall, dass intensivmedizinisches Gerät knapp werden könnte. Befürchten Sie, dass Menschen mit Behinderung in einer Entscheidungssituation über Leben und Tod benachteiligt werden könnten?
 
Stöckler: Das habe ich heute auch am Rande im Radio mitbekommen. Das ist natürlich gruselig. Sowohl für die, die es betreffen könnte als auch für die, die es entscheiden müssen. Natürlich denkt man schon als erstes: Ja, dann sind das die Älteren und unter Umständen auch die Menschen mit Behinderung.
Ich habe schon gedacht, wenn ich ins Krankenhaus kommen würde, bräuchte ich ja nicht nur eine Beatmung, ich brauch auch eine umfassende, komplette andere Pflege und ob man mir dann sagen würde: Das können wir eh nicht bewerkstelligen - da will ich gar nicht drüber nachdenken.
 
ANZEIGER: Das macht schon Angst.
 
Stöckler: Ja, auf jeden Fall. Was aber ein noch näherliegendes Problem ist, ist dass Menschen mit Behinderung eher mal ins Krankenhaus oder regelmäßig ins Krankenhaus müssen zu Routineuntersuchungen. Und die werden jetzt reihenweise abgesagt und aufgeschoben. Und sowas macht natürlich auch Angst. Und wenn dann gesagt wird: Wir machen das in ein paar Monaten, dann schiebt sich das ja bei allen auf. Das macht noch viel eher Angst.
 
ANZEIGER: Also diese Schwierigkeiten in der unmittelbaren Versorgungssituation?
 
Stöckler: Ja, genau. Und auch, dass diese ganze medizinische Versorgung nicht mehr richtig funktioniert. Ich brauche zum Beispiel Desinfektionsmittel, das brauche ich immer in meinem Leben. Und nun heißt es: Wir können kein Desinfektionsmittel mehr liefern, weil irgendwelche Leute denken, sie müssten das, was sie einkaufen, oder ihre Schuhe desinfizieren. Und für die, die es wirklich brauchen, ist es jetzt nicht mehr da. Oder Handschuhe. Für eine normale Pflegesituation braucht man halt Handschuhe. So etwas macht wirklich Angst.
 Die Beraterinnen der EUTB (Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung) sind weiterhin telefonisch oder per E-Mail erreichbar. Sie beraten zu allen Fragen über Leistungen, Zuständigkeiten und Verfahrensregelungen für Menschen mit einer (drohenden) körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung. Da auch die Telefonanlage streikt, sind die Beraterinnen zur Zeit unter 042117528272 oder per E-Mail unter: info@eutb-osterholz.de zu erreichen.


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