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Janine Girth

Worpswede nach dem 2. Weltkrieg - Szenische Lesung ließ Vergangenheit lebendig werden

Doris Stoeckel, Thomas Conrad, Petra Neubauer und Carsten Platz zitieren aus den Erzählungen der Zeitzeugen Waltraud Prang, geb. Schmidt, Kurt Schmidt, Erika Janke, geb. Schmidt und Dieter Schmidt. Sie sind vier von sechs Geschwistern der ostpreußischen Flüchtlingsfamilie, die im Niedersachsenstein gelebt haben. Foto: mr

Doris Stoeckel, Thomas Conrad, Petra Neubauer und Carsten Platz zitieren aus den Erzählungen der Zeitzeugen Waltraud Prang, geb. Schmidt, Kurt Schmidt, Erika Janke, geb. Schmidt und Dieter Schmidt. Sie sind vier von sechs Geschwistern der ostpreußischen Flüchtlingsfamilie, die im Niedersachsenstein gelebt haben. Foto: mr

von Monika Ruddek
Doris Stoeckel, Thomas Conrad, Petra Neubauer und Carsten Platz zitieren aus den Erzählungen der Zeitzeugen Waltraud Prang, geb. Schmidt, Kurt Schmidt, Erika Janke, geb. Schmidt und Dieter Schmidt. Sie sind vier von sechs Geschwistern der ostpreußischen Flüchtlingsfamilie, die im Niedersachsenstein gelebt haben.Foto: mr
Worpswede. Ian Bild vom Worpsweder Antiquariat, der Heimatverein Worpswede und die lesenden Mitwirkenden auf der Bühne ließen in der szenischen Lesung „Was kann schöner sein“ im Theater der Alten Molkerei Charaktere wieder aufleben, die das Worpsweder Bild der Nachkriegszeit prägten. Nicht nur die Bewältigung der NS-Diktatur war damals ein Thema. Vor allem die Knappheit von Lebensmitteln und anderen Gütern, der Hunger, Armut und ein Leben in Trümmern bestimmte das Leben der Menschen nach dem 2. Weltkrieg.
Ian Bild, Inhaber des Worpsweder Antiquariats, übernahm die Rolle des Erzählers. Er schlüpfte kurzerhand in die Person eines 19-jährigen britischen Soldaten, der im Mai 1945 nach Bielefeld einberufen wurde und von dort aus auch Station in Worpswede machte. „Mein Charakter ist zwar ein erfundener, aber dennoch sind die Geschichten zu meiner Person und über die Eindrücke im Nachkriegsdeutschland die meines Vaters, der damals als britischer Soldat mit den alliierten Truppen in Bielefeld und Hamburg, aber nicht in Worpswede war“, erzählt Ian Bild nach der Lesung.
Die Zuschauer wurden im Theater der Alten Molkerei zurückversetzt in das Nachkriegsdeutschland, das in Worpswede eine ganz eigene bewegende Geschichte zu erzählen hat. Das Mädchen Anna Holsten, gelesen von Yasemin Kaya, erzählt von den Plünderungen der Engländer in Worpswede. Sie nahmen ihr eine Handharmonika weg und zogen damit durch die Straßen, obwohl sie das Instrument gar nicht spielen konnten. Ilse Tilgner, die Frau des Tierarztes und Zeitzeugin, gelesen von Petra Neuber, erzählt, dass die Frauen den Engländern mit weißen Tüchern entgegen liefen, um das Dorf vor Zerstörung zu retten.
Zeitzeugin Margret Gerken, gelesen von Doris Stoeckel, die 1937 in Eickedorf geboren wurde, erinnert sich an ihre Kindheit, die geprägt war von Hunger und Arbeit. „Als Älteste musste ich viel helfen. Mein Vater war in Kriegsgefangenschaft und war völlig abgemagert, als er aus dem Krieg kam“, zitiert Doris Stoeckel. Margret Gerken hatte ihren Vater nicht wiedererkannt. Man habe viel Butter hergestellt und diese verkauft. Die Bauern konnten damals Eier und Butter verkaufen und diese gegen andere notwendige Güter tauschen. Auf dem Schwarzmarkt wurde viel gehandelt. Vor allem Zigaretten und Schokolade seien begehrt gewesen. Dann war da Karl Jakob Hirsch, gelesen von Werner Morisse, als Kind einer jüdischen Familie in Hannover geboren, zog er im Jahre 1911 nach Worpswede. 1916 heiratete er in Berlin seine erste Ehefrau Auguste Lotz, genannt Gulo. Aus ihren Briefen las Anke Gieseke auf der Bühne des Theaters der Alten Molkerei. Später trennte Hirsch sich von Gulo, heiratete erneut, behielt aber den Kontakt zu seiner ersten Frau. 1934 emigrierte Karl Jakob Hirsch nach Dänemark und zwei Jahre später in die USA. 1945 kehrte er mehr oder weniger nach Deutschland zurück, war für die amerikanische Militärregierung in München tätig. „Ich kam nur zurück, um meinen Hass zu befriedigen“. Er kehrte auch einmal nach Worpswede zurück, in den Ort, wo ihm alles so bekannt vorkam, er aber niemandem mehr über den Weg traute. Leute grüßten ihn, die ihn 1933 nicht mehr gegrüßt hatten. Verlogen und unehrlich erscheinen sie Karl Jacob Hirsch.
Zeitzeugen erhalten Geschichte
Flüchtlinge aus Ostpreußen kamen nach dem Ende des 2. Weltkriegs ebenfalls nach Worpswede, darunter die Familie Schmidt, die nach einem ersten Aufenthalt in einer Schule, in den von Bernhard Höetger errichteten Niedersachsenstein umzogen. Thomas Conrad, Doris Stoeckel, Carsten Platz und Petra Neubauer zitierten aus Zeitzeugenbefragungen, was vier der Schmidt-Kinder, die noch heute in Worpswede wohnen, damals erlebten. „Wir lebten in zwei Räumen. In der Mitte wurde gekocht“. Das Leben der Schmidts spielte sich viel im Freien ab. „Wir hatten sämtliche Freiheiten und Liebe. Zwar gab es weder Strom noch Wasser“, aber die Familie holte sich Wasser und sie bekamen Brot von den Engländern. Auf dem großen Parkplatz in Worpswede spielten die Jungs in und um die Militärfahrzeuge, die dort noch immer standen. „Wir pflückten Sauerampfer und kochten Brennnesselsuppe. Kaufen konnten wir uns nichts“. Die Flüchtlinge waren die einfachen Leute und dann gab es „die Worpsweder“ erzählen die Kinder der Familie Schmidt. Die waren immer etwas besser gekleidet. Das Highlight für die Kinder sei eine Flasche Sprudel gewesen, wenn der Opa Geburtstag feierte. Im Sommer seien Touristen zu dem Niedersachsenstein gekommen und seien erstaunt gewesen, dass dort jemand wohnte.
Nach dem 2. Weltkrieg gab es für die Deutschen viele Vorschriften, die eingehalten werden mussten, um die Ordnung zu erhalten. Hans-Hermann Hubert vom Heimatverein verlas auf der Theaterbühne immer wieder Vorschriften, die das Alltagsleben ordnen sollten. Zur Ernährungskrise, vor allem im kalten Winter 1946/47, gesellte sich die Kohlenkrise. Die Vorräte an Lebensmitteln waren aufgebraucht und Lebensmittel wurden rationiert. Oft gab es nur Steckrübensuppe, weil die Frauen nicht wussten, was sie sonst auf den Tisch bringen sollten. Kohle zum Heizen gab es nur auf Zuteilung.
Ausgerechnet der jüdische Verleger Victor Gollancz, zitiert von Carsten Platz und interviewt vom „Moderator“ (Hans-Hermann Hubert) des Nordwestdeutschen Rundfunks, war es, der Kampagnen gegen den Hunger der Deutschen führte und sich für verwahrloste Kinder und Jugendliche engagierte. In der Schulchronik Worpswedes ist übrigens nachzulesen, das man im Sommer 1945 versuchte den Schulbetrieb wieder in Gang zu bringen. Nazi Lehrer wollte man jedoch nicht mehr beschäftigen. Anna Holsten (Yasemin Kaya) erzählt, dass zu Beginn acht Schulklassen in einem Raum unterrichtet wurden. Auch das Thema unterernährte Kinder, die sich im Unterricht nicht konzentrieren konnten, spielte eine große Rolle. Deshalb organisierte man Schulspeisungen und sogenannte Mittagspaten, die vor allem Flüchtlingskindern ein Mittagessen spendierten.
Neues und nie Vergessenes
Die szenische Lesung brachte viel Neues, Bekanntes und nie Vergessenes ans Tageslicht. Auch Henny Goldschmidt, deren Mutter Rosa Abraham n Worpswede lebte und in Theresienstadt ermordet wurde, wurde in der szenischen Lesung erwähnt. Sie war 1934 in die USA geflüchtet und hielt einen engen Briefkontakt zu den Schwestern des Buchhändlers Netzel.
Die Wirtschaftsentwicklung schritt ab 1948 mit der Währungsreform und der Einführung der D-Mark allmählich voran. Die Zukunft in Deutschland war auf Wirtschaftswunder gepolt. Niemand kannte in Deutschland die Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg. „Qué será, será“, mit diesem Lied begann und endete diese wunderbare Lesung in der Alten Molkerei. Es wird nächstes Jahr wieder eine Lesung geben. Das Worpswede der 50er/Anfang der 60er Jahre soll dann laut Ian Bild das Thema sein.
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