Seitenlogo
Monika Hahn

#LastSeen zeigt Fotos von NS-Deportierten

Sandbostel. Die mobile Ausstellung, die bis zum 6. April in der Gedenkstätte Lager Sandbostel haltmacht, ist eine Initiative der Arolsen Archives zusammen mit vier Partnern. Es geht dabei um die Suche nach bisher unbekannten Fotos von NS-Deportationen und ein neues Verständnis der Bilder.

„Gruß an Alle! Vergeßt uns nicht! Fritz Ilse Micki“. So der letzte, eiligst geschriebene und aus dem Zug geworfene Abschiedsgruß einer jungen Familie. Auf wundersame Weise erreichte diese Nachricht tatsächlich Adolf Wolffsky, den Bruder des Verfassers Fritz. Jener wurde wenig später mit Ehefrau und dem sechs Monate alten Sohn in Auschwitz-Birkenau von den Nazis ermordet.
Viele Schicksale von Deportierten aus der NS-Zeit sind leider bis heute ungeklärt. „Diese Wissenslücken zu schließen ist mühevolle Detektivarbeit“, beschreibt Ines Dirolf, Archivleiterin der Gedenkstätte in Sandbostel, ihre Arbeit. Viele Angehörige, die über den Verbleib ihrer Vorfahren keine detaillierten Kenntnisse besitzen, haben die Hoffnung an eine Aufklärung ihres Familienschicksals fast aufgegeben. Doch Forschende sind heute gut vernetzt, können scheinbar belanglose Fotos in ihren Kontext bringen und auf diese Art manches Puzzle zusammenfügen.
 
Bürokratisch organisierte Gewalt
 
In einem umgebauten LKW aus den 1950er Jahren zeigt die kleine Ausstellung die „bürokratisch organisierte Gewalt“ des NS-Regimes. Ähnliche Fahrzeuge wurden für den Transport von Verfolgten zu Sammellagern und Bahnhöfen genutzt. Die Deportation zahlloser Juden, Sinti und Roma begann oftmals am helllichten Tag, überall mitten in Deutschland, unter den Augen der Öffentlichkeit. Es sind Bilder der Machtinszenierung, heimlich aus einem Fenster aufgenommene Fotos, private Aufnahmen der Täter; die meisten zeigen größere Gruppen der Deportierten oder Märsche durch Straßenzüge. Das wohl auffälligste Foto der Ausstellung zeigt zwei etwa achtjährige Mädchen in Großaufnahme, deren Identität bis heute leider unbekannt ist. Es verdeutlicht: Opfer dieser Gewalt waren Individuen, auch viele Kinder waren darunter, und die Aufklärung dieser einzelnen Schicksale macht Geschichte lebendig und für uns begreifbar.
 
Forschende werben um Mithilfe
 
Die Ausstellung möchte das Thema in das kollektive Bewusstsein bringen und wirbt um Mithilfe: Viele Dachbodenfunde wirkten für Laien belanglos, könnten aber von großer historischer Bedeutung sein. Darum sollten diese nicht einfach „entsorgt“ werden. „Auf einem Bild mit einer Gruppe Menschen auf einem Feld erkennt man als Laie nicht, ob dort zum Beispiel belgische Kriegsgefangene abgebildet sind, die wir anhand der Uniform als solche identifizieren können“, beschreibt Andreas Ehresmann, Leiter der Gedenkstätte Sandbostel die Situation. Die Wissenschaftler:innen gehen heute davon aus, dass es wesentlich mehr Fotos und Berichte von Augenzeuginnen über die Deportationen gibt, und rufen dazu auf in privaten Nachlassenschaften nach solchen Dokumenten Ausschau zu halten. Auch scheinbar belanglose Bilder können dabei von Interesse sein.
 
Wissen erhalten und zusammenführen
 
„Niemand braucht befürchten, dass sein Bild, sein Name oder der seiner Angehörigen irgendwo veröffentlicht wird, wenn die Dokumente an eines der Archive gegeben werden. Das ist datenschutzrechtlich nicht erlaubt. Außerdem geht es uns Forschenden nie darum, jemanden anzuklagen. Wir möchten das Wissen erhalten und zusammenführen“, ermutigt Andreas Ehresmann die Menschen, die Forschungsprojekte zu unterstützen.
 
Bilder und Dokumente werden gesucht
 
Die Ausstellung ist noch bis zum 6. April in Sandbostel zu sehen und zieht dann weiter nach Stade. Dokumente und Schriftstücke aus der NS-Zeit sind jedoch jederzeit für die Forschenden von Interesse. Daher freuen sie sich über jede Art der Mithilfe und Kontaktaufnahme von Menschen, die im Besitz von Bildern und Dokumenten sind, die aus der NS-Zeit stammen könnten. Die Erfahrung lehre, dass es wichtig sei, das Wissen über diese Zeit zu bewahren: Die dritte Nachkriegsgeneration erhoffe sich von den Archiven Auskünfte über Lebenswege ihrer Vorfahren, insbesondere dann, wenn es keine eindeutigen Belege über sie im privaten Umfeld gebe.
Erste Ergebnisse von #LastSeen werden Ende 2022 veröffentlicht und stehen damit sowohl der Forschung als auch der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung. Zudem wird aktuell ein interaktives, partizipatives Tool entwickelt, mit dem Schüler:innen das Bildmaterial zu Deportationen lesen und verstehen lernen.
Die Ausstellung ist Montag bis Freitag von 9 bis 16 Uhr sowie Sonntag von 11 bis 17 Uhr geöffnet.
www.lastseen.org


UNTERNEHMEN DER REGION