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Ralf G. Poppe

Der nahe Ort des Sterbens

Sandbostel. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Ehefrau Elke Büdenbender besuchten zusammen mit dem niedersächsischen Kultusminister Grant Hendrik Tonne die Gedenkstätte in Sandbostel, um an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion vor 80 Jahren zu erinnern.

Am 22. Juni 1941 hatte Nazi-Deutschland die Sowjetunion überfallen. Millionen von russischen Soldaten gerieten in Gefangenschaft. 70.000 von diesen Kriegsgefangenen wurden im Lager Stalag X B in Sandbostel interniert. Mindestens 46.000 von ihnen starben. Die genaue Zahl kennt man bis heute nicht.
 
Von langer Hand geplant
 
Das erstmals in der Geschichte der Gedenkstätte ein Staatsoberhaupt zu einem offiziellen Besuch das historische Gelände betrat, war von langer Hand geplant worden, berichtete Jan Dohrmann von der Gedenkstätte Lager Sandbostel dem ANZEIGER bereits im Vorfeld.
„Wir wurden bereits vor Monaten vom Bundespräsidialamt angesprochen, weil man einen Ort suchte, der sich eignet, um einen Besuch im Rahmen des 80. Jahrestags des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion zu organisieren“, so Dohrmann, der den Besuch unisono mit Gedenkstättenleiter Andreas Ehresmann als große Ehre bezeichnete.
 
Ergreifende Rede
 
Nach der Ankunft hieß der Vorstandsvorsitzende der Stiftung, Günther Justen-Stahl, das Präsidentenpaar nebst Entourage herzlich willkommen. Dann wurden Frank-Walter Steinmeier und Elke Büdenbender von Werner Borgsen und Dr. Klaus Volland begrüßt. Zusammen veröffentlichten beide 1991 die erste wissenschaftliche Publikation über das ehemalige Lager unter dem Titel: „Stalag X B. Zur Geschichte eines Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglagers in Norddeutschland“. Volland wurde für sein Wirken 2014 mit dem Verdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.
Er begrüßte das Präsidentenpaar mit einer ergreifenden Rede, in der er beschrieb, wie die meisten der ganz jungen, hoffnungsvollen Männer an dem Ort entmenschlicht, gedemütigt und ausgebeutet worden waren. Die Stiftung Lager Sandbostel sei der Erinnerung an Kriegsgefangene, Zivilinternierte und KZ-Opfer aus aller Welt verpflichtet. In einer vielgelobten Ausstellung dokumentiere sie die Geschichte des Lagers von den Planungsanfängen der Wehrmacht im August 1939 bis zu den Wochen nach der Befreiung des Stalag X B im April und Mai 1945.
In einem zweiten Gebäude ist die Nachkriegsgeschichte des Lagers von der Nutzung als britisches Internierungslager für ehemalige SS-Leute und NS-Füher und als Auffanglager für junge DDR-Flüchtlinge bis hin zu den ersten Bemühungen einer Graswurzelbewegung um die Errichtung einer Gedenkstätte dargestellt. Auf dem ehemaligen Lagergelände sind noch 23 historische Baracken des Kriegsgefangenenlagers (überformt) erhalten. Diese Baracken seien die vielleicht wichtigsten Ausstellungsstücke, so Volland. Anschließend wurde die Ausstellung im ersten Gebäude besucht.
 
Den Toten wieder einen Namen geben
 
Die Gedenkstätte Lager Sandbostel versucht seit Jahren, den oftmals „namenlosen“ Opfern zumindest wieder einen Namen zu geben. So schritt das Präsidentenpaar folgerichtig zusammen mit Katharina Saemann (76), der Tochter einer deutschen Frau und eines sowjetischen Kriegsgefangenen, vom ersten Gebäude zum nächsten Programmpunkt. Saemann erläuterte vor laufenden TV-Kameras die Geschichte ihrer Eltern. Ihren Vater hatte sie seinerzeit letztmals bei einer Gegenüberstellung in Sandbostel gesehen.
Mit dabei waren auch Laura Keiser (20), die ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Gedenkstätte absolviert sowie Abiturientin/ Praktikantin Joy Schmidt (19), die mit ihren teilweise grün gefärbten Haaren neben dem Präsidenten für einen besonderen Farbtupfer sorgte. Sie erklärte dem TV-Sender SAT1 Regional später, wie aufregend der Besuch anfangs gewesen sei, wie entspannt es jedoch mit den beiden besonderen Gästen war.
Nach dem gemeinsamen Besuch einer Baracke schritt Steinmeier dann allein vor die Mikrofone, um an das schreckliche Sterben auf dem Gelände zu erinnern. Dieses Sterben habe nicht irgendwo in weiter Ferne stattgefunden, nicht in der Ferne Osteuropas, sondern auch hier, bei uns, auch z.B. in Sandbostel, mahnte der Bundespräsident.
Dann zog die Besuchergruppe - durchgehend begleitet von massiven Sicherheitsvorkehrungen mit diversen Personenschützern - weiter, um eine Wand mit Personalkarten verstorbener sowjetischer Kriegsgefangener in Augenschein zu nehmen.
 
Kranzniederlegung und persönliche Gespräche
 
Später unterhielt sich das Präsidentenpaar mit der 88-jährigen Ruth Gröne. Ihr Vater Erich Kleeberg war im Nationalsozialismus als jüdisch verfolgt im Februar 1945 in das Konzentrationslager Neuengamme deportiert worden. Im April des Jahres erfolgte der Transport nach Sandbostel, wo Kleeberg vermutlich kurz nach der Befreiung des Lagers starb.
Nach der Kranzniederlegung am Ehrenmal für die sowjetischen Kriegsopfer diskutierte das Präsidentenpaar ausgiebig mit Gerd A. Meyer. Meyer ist Sohn einer deutschen Mutter und des im Stalag XB in Sandbostel verstorbenen Anatolij Michailowitsch Pokrowskij. Er war über das Konzentrationslager in ein Arbeitskommando nach Haaßel gekommen. Dort musste er auf einem Bauernhof arbeiten. Dabei unterhielt eine geheime Liebesbeziehung zur Tochter des Landwirts. Ohne das Wissen, Vater zu werden, starb er im Februar 1945 im Lazarett des Stalag X B. Meyer konnte nach jahrelangen Recherchen die Identität des Vaters klären, und unterhält mittlerweile Kontakte zu seiner Familie in Russland.
www.stiftung-lager-sandbostel.de


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