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Patrick Viol

Virtuelle Gedenkfeier in Sandbostel

Sandbostel. Corona verhindert die öffentliche Gedenkfeier zum 75 Jahrestag der Befreiung des Stalg X B. Stattfinden wird sie daher im Internet. Was vor 75 Jahren im Vorfeld der Befreiung geschah, darf nicht vergessen werden.
 
Nirgends in der Bundesrepublik stehen so viele original erhaltene Baracken wie im ehemaligen Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglager Sandbostel, das am 29. April 1945 von den Briten befreit wurde.

Nirgends in der Bundesrepublik stehen so viele original erhaltene Baracken wie im ehemaligen Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglager Sandbostel, das am 29. April 1945 von den Briten befreit wurde.

Im März vor 75 Jahren begangen die Deutschen die allerletzte Phase ihrer Verbrechen: Auf Todesmärschen schoben sie Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge im untergehenden Reich hin und her. 9.500 von ihnen erreichten ab dem 12. April das Kriegsgefangenenlager Sandbostel.
Manche von ihnen stammen aus dem Konzentrationslager in Bremen Farge, ein Außenlager des KZ Neuengamme bei Hamburg. Am 9. oder 10. April gab es den Befehl, das Lager zu räumen. Die Häftlinge des Bremer KZ wurden unter anderem zum Bau des Bunker Valentin gezwungen, der heute eine Gedenkstätte ist.
Viele Häftlinge aus Farge, die trotz Unterernährung und Zwangsarbeit auf wundersame Weise noch laufen konnten, wurden auf einen „Todesmarsch“ zum Kriegsgefangenenlager Sandbostel geschickt. Die Kranken wurden in überfüllte Güterwaggons gepfercht und sollten nach Bergen-Belsen deportiert werden. Wo sie aber nie ankamen. Der Zug endete in Bremervörde.
Diejenigen, die marschieren mussten, liefen vor den Augen der deutschen Bevölkerung quer durch die norddeutsche Region.
Von Farge, über Schwanewede und Meyenburg, über Hagen, Bokel und Beverstedt, durch Horst, Barchel und Bremervörde. Bis schließlich die, die den Marsch überlebten, Sandbostel erreichten. Denn wer nicht mithalten konnte, wurde erschossen.
Überlebende berichteten davon, wie sich ihre Mithäftlinge in Gräben am Straßenrand legten, um dort zu sterben. Weil sie nicht mehr laufen konnten. Weil sie ihre zum Teil auf 36 Kilo runtergehungerten Körper nicht mehr tragen konnten.
Die Kranken, die in Bremervörde oder Brillit mit dem Zug ankamen, wurden mit einer Feldbahn ins Lager gebracht. Etwa ein Drittel der nach Sandbostel geschickten Häftlinge marschierte entweder in den Tod oder starb im Lager.
 
Wozu marschieren lassen?
 
Die Todesmärsche werfen unweigerlich die Frage auf: Zu welchem Zweck lässt man die halb toten Menschen Kilometerstrecken marschieren, obwohl offensichtlich war, dass der Krieg verloren ist. Andreas Ehresmann von der Gedenkstätte Sandbostel erklärt, dass es hierzu in der Forschung zwei Thesen gebe: Zum einen hätten die Nazis verhindern wollen, das Überlebende den Alliierten von den Taten der Deutschen berichten. Zum anderen habe man wohl die Zwangsarbeitskraft weiter „verwenden“ wollen. Beide Erklärungen bleiben aber unzureichend. Wollte man lediglich die Zeugenschaft verhindern, hätte man die Häftlinge gleich töten können. Und in Anbetracht der ausgemergelten Körper von Arbeitskräften zu sprechen, die die Nazis nicht nur zusätzlich erschöpften, sondern zudem auf dem Marsch malträtierten, entbehrt jedweder Rationalität. Aber vielleicht waren die Todesmärsche genau das: die Fortführung des mörderischen Wahnsinns des Lagersystems mit anderen Mitteln so lange es geht. Was sich aber an den Forschungen zu den Todesmärschen auch hier in der Region eindeutig zeige, ist, so Ehresmann, „dass der Holocaust in der Breite stattgefunden hat. Auf jedem Dorffriedhof findet man Gräber seiner Opfer.“
 
Ein kleines Belsen
 
An diesem Wochenende vor 75 Jahren, am 19. und 20. April 1945, brach im Lager Sandbostel die sogenannte „Hungerrevolte“ aus. Initiiert hatten sie die KZ-Häftlinge und Kriegsgefangenen, weil man  ihnen mitteilte, dass man sie wieder zurück nach Neuengamme marschieren lassen will. Ein paar Tage später also, nachdem sie von dort aus nach Sandbostel marschieren mussten. Das hätten die wenigsten überlebt. Ebenso mörderisch waren aber auch die Zustände im Lager Sandbostel.
Ein britischer Soldat, der an der Befreiung des Lagers beteiligt war, beschreibt es in Anbetracht des infernalischen Gestanks und der riesigen Leichenberge in seinem Tagebuch als ein kleines Bergen-Belsen, „like a minor Belsen“. Also als eine kleine Version desjenigen Konzentrationslagers, über das die Jüdin und Insassin Hanna Lévy-Hass in ihren Aufzeichnungen schrieb, dass es die Differenz zwischen Lebenden und Toten abgeschafft habe: „Wir sind Skelette, die sich noch bewegen, sie sind Skelette, die schon unbeweglich sind.“
Dieses brutale Ausmaß der Entmenschlichung konnte so manchen britischen Soldaten nur noch schockiert mit Abscheu oder Hass reagieren lassen, wie Ehresmann berichtet.
 
Call of Remembrance
 
In Anbetracht der brutalen Geschichte des Lagers und der Wichtigkeit, seiner Opfer zu gedenken, sei es umso „schmerzlicher“, dass der 75. Jahrestag seiner Befreiung am 29. April aufgrund der Corona-Pandemie nicht öffentlich begangen werden kann. Auch, wenn vieles vom Halbjahresprogramm nachgeholt werden wird - den Jahrestag kann man nicht nachholen, so Ehresmann enttäuscht. Das sei natürlich vor allem „schmerzhaft für die Angehörigen der Opfer.“ Es hatten sich bereits mehr als 400 Besucher*innen für die große Gedenkveranstaltung angemeldet.
Die Gedenkstätte habe aber ein Ersatzprogramm organisiert, um den Ausfall für die Angehörigen etwas zu kompensieren.
So hat man bereits Ende März einen Call of Remebrance gestartet und Angehörige gebeten, der Gedenkstätte E-Mails oder Briefe mit Gedanken, Nachdrucke von Fotos oder symbolische Objekte zuzusenden. Aus diesem bisher zahlreich zugesandten Material gestaltet das Team der Gedenkstätte ein temporäres Denkmal.
Die Idee dabei sei, jenen, die nicht kommen dürfen, eine persönliche Beteiligung an der Gedenkfeier ohne Anwesenheit zu ermöglichen. Denn am Gedenktag wird im kleinen Rahmen auf dem ehemaligen Lagerfriedhof eine Kranzniederlegung stattfinden, welche gefilmt und ins Netz übertragen wird. Durch ihre persönlichen Zusendungen könnten die Angehörigen der Opfer über eine „metaphysische Verbindung“, wie Ehresmann es beschreibt, an der Veranstaltung teilnehmen.
 
Virtuelle Gedenkstätte
 
Die Enthüllung des temporären Denkmals kann man am 29. April auf der Internetseite der Gedenkstätte verfolgen. Aber bereits jetzt lohnt sich ein Besuch der Seite. Die Gedenkstätte lädt hier beispielsweise zu zwei virtuellen Rundgängen ein, unter anderem durch ihre derzeitige Hauptausstellung, deren Katalog kostenlos zum Download bereitsteht. Ebenso finden sich hier bereits gelaufene Videovorträge; ein neuer zur Befreiung des Lagers von Andreas Ehresmann ist für den 26. April geplant.
 
(korrigierte Version  19. April)


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