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Ralf G. Poppe

Widerstand gegen die Mülldeponie

Haaßel. Der ANZEIGER sprach mit Walter Lemmermann von der BI, Landrat Hermann Luttmann (CDU) sowie seinem designiertem Nachfolger Marco Prietz (CDU) über einen möglichen Konsens in Bezug auf die geplante Abfalldeponie. Indessen gab es eine „erneute Panne“ im Genehmigungsverfahren.

Eigentlich sollte das Thema bei der Kreistagssitzung am 25. März wieder auf die Tagesordnung kommen. Doch ein Schreiben des Gewerbeaufsichtsamts sorgt für Wirbel, sodass das Thema vermutlich doch noch einmal augfgeschoben wird.
Landrat Hermann Luttmann spricht von einer „erneuten Panne im Genehmigungsverfahren“, die er zum Anlass nehme, ein Gespräch mit Umweltminster Olaf Lies zu führen. Konkret geht es um eine - laut Luttmann - wohl zu vernachlässigende Änderung in Bezug auf das Entwässerungskonzept.
 
„Zumutung für den Kreistag“
 
Doch die Art und Weise, wie hier der Kreistag von Umweltministerium und Gewerbeaufsicht behandelt werde, sei eine Zumutung, meint Marco Prietz. Nachdem man in den vergangenen dreieinhalb Wochen mit über 70 Seiten Unterlagen zu tun hatte, um das wasserrechtliche Einvernehmen zu prüfen, schicke die Gewerbeaufsicht nun eine Woche vor der Kreistagssitzung ein zusätzliches Schreiben, das im Widerspruch zum Schreiben des Umweltministeriums stehe. „Erst heißt es, die Planungen seien inhaltlich nicht verändert, nun wird das Gegenteil mitgeteilt. Gleichzeitig soll der Kreistag weiterhin kurzfristig das Einvernehmen erteilen. So geht es nicht“, sagt Prietz. Ein wasserrechtliches Einvernehmen könne der Kreistag vor dem Hintergrund der Sachlage keinesfalls erteilen.
 
BI-Gründung vor zehn Jahren
 
Diese erneute Verzögerung dürfte der BI in die Hände spielen. Das Thema beschäftigt die Bevölkerung nunmehr seit zehn Jahren.Im Frühjahr 2011 wurde die Einwohner:innen der Gemeinden Selsingen und Anderlingen durch die Auslage von Planungsunterlagen für eine Abfalldeponie mit belastetem Bauschutt in der Feldmark zwischen Haaßel und Anderlingen aufgeschreckt. Daraufhin wurde die Bürgerinitiative Haaßel (BI) gegründet.
 
Der ANZEIGER fragt nach
 
Gibt es aus Ihrer Sicht eine Lösung, die beide Seiten zufrieden stellen würde?
Walter Lemmermann (WL): „Selbstverständlich. Ein geordnetes Standortsuchverfahren für einen Standort mit besseren Rahmenbedingungen wie in Haaßel. Gerne darf der Betrieb dann auch von der Firma Kriete Kaltrecycling GmbH durchgeführt werden. Ein geeigneter Standort müsste nicht, wie in diesem Fall, aufwendig aufgeschüttet werden, um die Abdichtung zum Grundwasser zu gewährleisen. Er hätte Erweiterungsmöglichkeiten, die in Haaßel nicht gegeben sind und könnte optimaler für den Anlieferungsverkehr erreichbar sein. Also Vorteile für den schützenwerten Naturraum in Haaßel und Vorteile für die Betreiberfirma.
Man muss sich nur von Planungen aus dem letzten Jahrhundert, als Naturschutz noch nicht in die Entscheidungen einbezogen wurde, lösen und kreativ werden. Hier ist die neue Generation von Politikern um Marco Prietz, Dr. Marco Mohrmann und Eike Holsten gefordert. Sie sollten beweisen, dass sie gestalten und nicht nur verwalten wollen. Ansonsten würden sie nur die Fehler der Vergangenheit dulden und dadurch mitverantworten.“
Marco Prietz (MP): „Ein solcher Kompromiss wäre wünschenswert, scheint aber leider nicht mehr möglich zu sein. Die Bürgerinitiative lehnt einen Deponie-Standort in Haaßel kategorisch ab. Firma Kriete hingegen strebt nach wie vor eine Genehmigung der Gewerbeaufsicht des Landes Niedersachsen auf Basis ihres Antrags aus 2011 an.“
Hermann Luttmann (HL): „2011 habe ich die Errichtung der Deponie außerhalb des Naturschutzgebietes, aber noch auf dem Gelände der 1995 planfestgestellten wesentlich größeren Hausmülldeponie vorgeschlagen. Hierfür hat es leider keine Zustimmung gegeben. Mittlerweile sehe ich nicht mehr die Chance auf eine einvernehmliche Lösung.“
 
Halten Sie die Errichtung dieser Deponie im Landkreis Rotenburg für notwendig? Welche Alternativen gäbe es?
 
WL: „Es gibt keine verlässlichen Daten über den konkreten Anfall von belastetem Bauschutt im Landkreis Rotenburg. Trotzdem hält die BI einen verantwortungsvollen Umgang mit diesem Abfall durch eine Deponie an dem richtigen Standort für notwendig. Man sollte ein Standortsuchverfahren, dass man auch mit angrenzenden Landkreisen gemeinsam durchführen könnte, mit transparenten Auswahlkriterien durchführen. Nur damit kann man für Akzeptanz sorgen.
Das Verfahren um das Atommüllendlager Gorleben hat deutlich gezeigt, dass ein undurchsichtiges Bestimmen eines Standortes zum Scheitern verurteilt ist. Nach Jahrzehnten der Fehlplanung geht man dabei nun den Weg eines öffentlichen Standortsuchverfahrens. Ein Suchverfahren dauert zwar in der Planungsphase länger, hat aber nachher bei einer gerichtlichen Überprüfung mehr Chancen auf Bestand. Dass dies ein entscheidender Faktor auch für die Betreiber ist, sieht man an dem vielen Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit den Planungen in Haaßel.“
MP: „Es wird von allen Seiten anerkannt, dass ein Bedarf an Deponien der Klasse I („Bauschuttdeponien“) besteht. Das gilt für Deutschland, Niedersachsen, den Elbe-Weser-Raum und auch den Landkreis Rotenburg (Wümme). Hierzu liegen zahlreiche Studien vor. Die 2011 beantragte Deponie ist auf Basis der seinerzeit geltenden, und damit bis heute zu beachtenden, Regelungen aus Sicht der Gerichte grundsätzlich zulässig. Die 2017 im Urteil des OVG Lüneburg ausgemachten Mängel der 2015 von der Gewerbeaufsicht erlassenen Genehmigung (Planfeststellungsbeschluss) wurden zwischenzeitlich vermutlich von der Antragstellerin und der Gewerbeaufsicht behoben. Ich kenne niemanden, der ernsthaft damit rechnet, dass die Deponie noch verhindert werden kann.“
HL: „Derzeit wird der Bauschutt aus dem Landkreis in der Regel über private Entsorgungsunternehmen überwiegend in Hittfeld im Landkreis Harburg sowie in Geesthacht in Schleswig-Holstein entsorgt. Derart weite Transportwege sind allein schon aus Klimaschutzgründen fragwürdig. Aufgrund einer ähnlichen Situation in den Nachbarlandkreisen befürwortet die IHK Stade wie auch das Land deshalb eine Deponie im Elbe-Weser-Raum (Abfallwirtschaftsplan vom August 2019). Im Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Lüneburg (OVG) vom Juli 2017 zum Planfeststellungsbeschluss für die Bauschuttdeponie Haaßel wird der Bedarf ebenfalls bejaht und in einer umfassend Begründung festgestellt, dass die geplante Deponie Haaßel eine ausreichende Auslastung erwarten lässt („Planrechtfertigung“).“
 
Der Landkreis Stade plant eine Deponie in Eigenregie, wäre dies auch eine Möglichkeit für den Landkreis Rotenburg?
 
WL: "Ja. Aber auch ein Zusammenspiel mit anderen Landkreisen oder privaten Betreibern wäre möglich. Wichtig ist aber immer Transparenz. Es darf nicht um Gewinnmaximierung für Einzelne gehen, sondern um eine nachvollziehbare Auswahl des Standortes und der Betreiber. Transparenz darf nicht nur ein Schlagwort im Wahlkampf sei. Sondern die Kreispolitik muss sich daran messen lassen. Die Behauptung, dass Entscheidungen nur in Hannover oder Lüneburg getroffen werden, ist falsch. Nach 10 Jahren Erfahrungen im Dialog mit den Ministerien in Hannover ist der BI bewusst, dass man dort regelgerecht auf aktive Landkreise wartet. Die Verantwortung, ob man gestalten möchte oder nur externen bzw. privaten Planungen hinterherläuft, liegt beim Kreistag und der Kreisverwaltung in Rotenburg."
 
 MP: "Wenn der Landkreis Rotenburg jetzt Planungen für die Errichtung einer eigenen Deponie aufnehmen würde, dann gäbe es neben der Deponie in Haaßel noch eine zusätzliche neue Deponie im Kreis. Das seit 2011 laufende Antragsverfahren von Firma Kriete kann nämlich durch neue Planungen an anderer Stelle nicht beeinflusst werden. Natürlich könnte man überlegen, als Landkreis die Deponie in Haaßel zu betreiben. Dann würde es jedoch ebenfalls zunächst einer endgültigen Genehmigung durch die Gewerbeaufsicht bedürfen, bevor man Firma Kriete diese Genehmigung für einen entsprechend hohen Preis abkauft. Für die Menschen in Haaßel hätte diese Lösung aber keine Vorteile gegenüber dem Betrieb durch ein Privatunternehmen. Art und Umfang der Einlagerung des Bauschutts würden sich dadurch nicht verändern."
 
 HL: "Der Landkreis hat die Option, eine Bauschuttdeponie selbst zu betreiben, ggf. auch unter Beteiligung von (privaten) Dritten. Die müsste jedoch neu eingerichtet werden. Die Kosten für Planung, Erschließung und Bau dürften heute deutlich über 10 Mio. Euro betragen. Hinzu kämen weitere Betriebs- und Rekultivierungskosten. Eine Refinanzierung müsste über kostendeckende Gebühren erfolgen. Für mich ist allerdings fraglich, ob der Landkreis selbst eine solche Einrichtung wirtschaftlich betreiben kann."
 
Wie kann aus ihrer Sicht ein überörtlicher Deponiebetrieb mit einem Naturschutzgebiet zusammengeführt werden?
 
WL: "Jedem muss bewusst sein, dass der Betrieb einer Deponie erhebliche Auswirkungen auf das gesamte Naturschutzgebiet hat. Der Schutzbedarf und die Schutzwürdigkeit des Naturraumes sind inzwischen gerichtlich bestätigt. Die Belastungen durch Staub, Lärm, Deponiebetrieb, künstlichen Lichtquellen und Veränderungen des Wasserhaushaltes enden nicht am Grenzzaun einer Deponie. Das wäre, als wenn man behaupten würde, dass Straßenlärm nicht mehr auf dem Fußweg zu hören wäre. Ein Nebeneinander schadet der Natur und hilft dem Betreiber nicht, da keine Erweiterungsmöglichkeiten vorhanden sind. Aber es gibt wie bereits ausgeführt bessere Alternativen, die die politisch Verantwortlichen nur aktiv angehen müssen. Nicht den Untergang eines Naturschutzgebietes verwalten, sondern Alternativen gestalten. Die BI würde gerne aktiv mitarbeiten."
 
MP: "Das Naturschutzgebiet Haaßeler Bruch wurde erst nach dem Antrag von Firma Kriete ausgewiesen, sodass die Deponieplanung juristisch betrachtet eine Vorrangstellung genießt. Deshalb hat das OVG Lüneburg in seinem Urteil zur NSG-Verordnung deutlich gemacht, dass man mit einem Naturschutzgebiet die Deponie nicht nachträglich verhindern kann. Der Kreistag wurde vom Gericht ausdrücklich dazu aufgefordert, die Deponie in der NSG-Verordnung freizustellen, also im Umfang des Antrags aus 2011 zuzulassen. Gleiches gilt im Übrigen auch für die Versuche, die Deponie über das Regionale Raumordnungsprogramm zu verhindern.
 
Zehn Jahre nach Gründung der BI ist deshalb festzustellen, dass der Bau der Deponie in Haaßel vermutlich nicht zu verhindern ist. Was jedoch erreicht wurde, ist eine wirksame Begrenzung der Deponieplanung im Hinblick auf ihre Größe und die dort zu lagernden Stoffe. Dazu hat auch ein sehr geschlossenes Auftreten des Kreistags in den letzten Jahren beigetragen. Viele Anregungen und Impulse hierfür kamen auch von der Bürgerinitiative vor Ort, die so die Auswirkungen auf Natur und Menschen gewissermaßen begrenzen konnte. Die früheren Entscheidungen von Politik und Verwaltung bis zum Jahr 2011 haben rückblickend betrachtet die Errichtung einer Deponie in Haaßel nicht nur ermöglicht, sondern im Grunde genommen unumkehrbar eingeleitet. Als jemand, der 2016 neu in den Kreistag gewählt wurde, habe ich das sehr schnell realisieren müssen. Alles, was seither über die Ausweisung eines Naturschutzgebiets, entsprechende Passagen im Regionalen Raumordnungsprogramm und Klageverfahren versucht wurde, führte lediglich zu einer vorübergehenden Verzögerung des Vorhabens. Mir scheint, dass allmählich alle Optionen ausgeschöpft sind. Diese Analyse wird den Gegnern der Deponie vor Ort nicht gefallen, aber so ehrlich sollte man auch und gerade in Wahljahren sein."
 
HL: "Im April 2018 hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg im Klageverfahren der Firma Kriete gegen den Landkreis Rotenburg die vom Kreistag im Dezember 2014 beschlossene Naturschutzgebietsverordnung u. a. für unwirksam erklärt, weil der Landkreis Rotenburg es versäumt habe, der zeitlich vorrangigen Deponieplanung - etwa durch eine ausreichende Freistellungsregelung - genügend Rechnung zu tragen. Die vom Kreistag daraufhin im Dezember 2019 beschlossene neue Verordnung trägt dem Rechnung, indem jetzt festgelegt wird, dass der Bau und der Betrieb einer Deponie gemäß dem Planfeststellungsbeschluss vom Januar 2015 einschließlich mögliche Änderungen im Planergänzungsverfahren von den Regelungen der Verordnung freigestellt ist, sofern keine zusätzlichen Flächen in Anspruch genommen werden und die abgelagerten Stoffe auf die beantragte Liste der Abfälle beschränkt bleiben. Ich halte dies für einen sachgerechten Interessenausgleich."
 
Entwicklungen im Überblick
 
Da die Auslage der Planungsunterlagen 2011 laut BI ohne vorherige Bürger:inneninformation vollzogen wurde, erfolgten als Reaktion darauf selbstorganisierte Versammlungen in Anderlingen und Haaßel, die zu der Gründung der Bürgerinitiative gegen die geplante Deponie in Haaßel (BI) führten. Eine Lenkungsgruppe von zehn Personen kümmert sich seither um die Organisation des Widerstandes gegen die Planungen, der auch von den Gemeinderäten in Anderlingen und Selsingen unterstützt wird.
Im Mai 2011 wurde erstmals eine Demonstration inklusive einer anschließenden Informationsveranstaltung mit circa 800 Teilnehmer:innen in Selsingen organisiert. Dabei wurde deutlich, dass die Planungen scheinbar nicht genehmigungsfähig waren, da u.a. auf Flächen geplant wurde, die sich nicht im Zugriff der beantragenden Firma Kriete Kaltrecycling GmbH befanden.
Die bis zur erneuten Auslage 2013 überarbeiteten Planungsunterlagen führten im Januar 2015 zu einem Planfeststellungsbeschluss durch das Gewerbeaufsichtsamt Lüneburg. Dieser wurde durch den NABU in enger Zusammenarbeit mit der BI 2017 erfolgreich vor dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg beklagt. Bis heute arbeitet die Firma Kriete Kaltrecycling GmbH an der Behebung der angemahnten Fehler des Verfahrens, bzw. setzt die Planungen unvermindert fort.
Zwischenzeitlich wurde die Naturschutzgebietsverordnung „Haaßeler Bruch“ erlassen. Die geplante Deponie befindet sich in diesem Naturschutzgebiet. Die BI kämpft nunmehr seit 10 Jahren für das Naturschutzgebiet, erfährt dabei die Unterstützung der Bewohner:innen der betroffenen Gemeinden.


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